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Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.

Ja, ja! Nein, nein!

REFERENDUM Erdoğan ist dabei, seine präsidial­dikta­to­rischen Ambitionen zu verwirklichen. Was kommt jetzt – in der Türkei wie in Deutschland?

Mit Kemal Atatürk gegen Erdoğan, Potsdamer Platz Foto: Jörg Carstensen/dpa

Nichts als Quark

betr.: „Wahlkampf mit Doppelpass“, taz vom 19. 4. 17

Man kann nur den Kopf darüber schütteln, dass überhaupt jemand auf die Idee kommt, wegen des Abstimmungsverhaltens der Wahlberechtigten mit türkischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland leben, eine Diskussion über die Angemessenheit der doppelten Staatsbürgerschaft in Gang setzen zu wollen. Laut Volkszählung 2011 lebten in Deutschland mit türkischem Migrationshintergrund 1,5 Millionen Menschen, die zwar über dauerhaftes Bleiberecht verfügen, aber einen deutschen Pass, den man ihnen entziehen könnte, überhaupt nicht besitzen. Im Besitz einer doppelten Staatsbürgerschaft befanden sich nur 0,53 Millionen Türkischstämmige. Viel wird sich an diesen Zahlen seit 2011 nicht geändert haben.

Von in der Türkei Wahlberechtigten, insgesamt 1,4 Millionen, hat überhaupt nur knapp die Hälfte abgestimmt, also etwa 700.000, davon wiederum 63,1 Prozent, also etwa 440.000 für die von Erdoğan betriebene Verfassungsänderung. Theoretisch wäre es also sogar vorstellbar, dass ohnehin nur solche Almancılar für die Verfassungsänderung gestimmt haben, die über keine deutsche, sondern nur über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Wir wissen, dass dem nicht so ist, doch wer kann eine Aussage über die tatsächlichen Verhältnisse treffen? Sicher ist, dass nur 31,4 Prozent der wahlberechtigten Almancılar für Erdoğans neue Verfassung gestimmt haben.

Und wem wollen unsere mit größtem Unbedacht bramarbasierenden Politiker denn überhaupt die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen, oder wen am besten gleich nach Hause schicken? Nur diejenigen, die mit Ja gestimmt haben. Dann müsste doch, schlimmer als in der Türkei, hier sogar das Wahlgeheimnis aufgehoben werden. Oder werden die 68,6 Prozent der Wahlberechtigten, die nicht für die neue Verfassung abgestimmt haben, in Sippenhaft genommen, sodass nur die noch nicht Wahlberechtigten keine Folgen zu spüren bekommen?

Andererseits stellt sich dann doch die Frage, ob man nicht umgekehrt gut der Hälfte der türkischstämmigen Wähler, die an den Verhältnissen in der Türkei offenbar so wenig Interesse zeigen, dass sie meinten, sich an dieser wichtigen Abstimmung nicht beteiligen zu müssen, die türkische Staatsbürgerschaft entzieht. Und im Gegenzug könnte man denjenigen Deutschen, die hier den Wahlverweigerer spielen, sich aber über die Verhältnisse in der Türkei das Maul zerreißen, die türkische Staatsbürgerschaft zuschanzen. Die Argumente für ein Junktim von Abstimmungsverhalten und doppelter Staatsbürgerschaft sind damit noch nicht einmal berührt. Auch sie sind nichts als Quark mit Soße! TORSTEN STEINBERG, Porta Westfalica

Einfältige Aussage

betr.: „Vage rote Linien aus Brüssel“, taz vom 20. 4. 17

Die Einführung der Todesstrafe in der Türkei sei „die dickste aller roten Linien“, so Margaritis Schinas, Sprecher der EU-Kommission. Was ist denn das für eine einfältige Aussage eines Chefsprechers, zumal ja die Zentimeterangabe der Dicke der Linie fehlt. Der geneigte Leser verzeihe mir meinen Zynismus. Aber es ist wirklich nicht zu fassen, was in Berlin und Brüssel so in den letzten zwei Tagen in Bezug auf die Positionierung zur Türkei gesagt wurde. Wie können sich Deutschland und Europa nur so vorführen lassen?

Die deutschen Regierungsvertreter/innen mögen sich doch bitte schleunigst die jetzt gültigen Terrorismusgesetze der Türkei ansehen und daran denken, dass Herr Erdoğan den deutschen Staatsbürger Deniz Yücel zum Terroristen erklärt hat. Ich mag nicht weiter darüber nachdenken …

SIBYLLA M. NACHBAUER, Erlangen

Wichtiger Fakt

betr.: „Erdoğ ans Verfassung“, taz vom 18. 4. 17

Es ist wichtig, nicht nur polemisch über eine Abstimmung pro und kontra Demokratie oder Autokratie zu sprechen, sondern sich die Verfassungsänderungen in der Türkei genau anzuschauen und deutlich zu machen, bei welchen davon die Probleme liegen. So führen Medien wie taz oder Spiegel Online die Änderungen dankenswerterweise auf. Bei Siegel Online gehört dazu auch folgende Information: „Dem US-Staatshaushalt muss der Kongress zustimmen, in der Türkei soll der Präsident über den Haushalt entscheiden dürfen. Außerdem besteht in den USA durch das föderale System eine weitere Machtaufteilung, bei der die Interessen der Einzelstaaten mit dem des Bundes in Einklang gebracht werden müssen.“ Das ist ein ziemlich wichtiger Fakt, der bei der taz fehlt – und auch bei Siegel Online nicht bei den wichtigen Änderungen, sondern erst beim Vergleich mit den USA auftaucht. Dabei geht es hier um das „Königsrecht“ eines Parlaments! Offen bleibt für mich die Frage: Irrt oder vereinfacht Spiegel Online– oder hat die taz etwas so Wichtiges übersehen?

SILKE KARCHER, Berlin

Fehlender Anstand

betr.: „Europas Hoffnung stirbt zuletzt“, taz vom 18. 4. 17

Ich könnte mir gut vorstellen, dass auch ein Herr Böhmermann seinen Beitrag zum Wahlausgang in der Türkei geleistet hat. Viele Türken mögen Böhmermanns „Gedicht“ – so wie ich – einfach ekelhaft gefunden haben. Ganz egal, um wen es sich handelt: Solcherlei unsachliche, zutiefst beleidigende Attacken sind indiskutabel und gehören geächtet – freie Meinungsäußerung hin oder her. Das hat etwas mit Anstand zu tun, falls Herr Böhmermann wissen sollte, was das ist. LISA BÄUML, Bremen

Legitimation

betr.: „Europarat warnt vor Todesstrafe!“, taz vom 19. 4. 17

Nachdem die türkische Regierung um Herrn Erdoğan sich bestätigt sehen kann für sein Präsidialsystem, spricht er auch wieder unverhohlen von der Todesstrafe! Und es ist nur schwer zu glauben, dass er sich dabei vom Europarat in die Suppe spucken lässt, wurde die Abstimmung zum Präsidialsystem doch „demokratisch“ durchgeführt! Es ist eher zu glauben dass er jetzt das durchziehen wird, wonach ihm der Sinn steht! Dabei wird ihm auch egal sein, was die EU unternimmt, hat er ja immer noch das Druckmittel Flüchtlingsdeal in der Hand! RENÉ OSSELMANN, Magdeburg

Nur geduldet

betr.: „Die anderen fünfzig Prozent“, taz vom 18. 4. 17

Ich bin froh darüber, dass die taz klar offenlegt, dass Erdoğan diese Abstimmung „getürkt“ hat. Erdoğan und seine AKP-Schergen hätten auch bei einem ehrlichen knappen Nein-Votum das Heft nicht aus der Hand gegeben, Demokratie ist abgeschafft in der Türkei. Aber kein Grund zum Erdoğan-Bashing, zeigt doch das Votum der hier lebenden Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, dass wir viel zu viele nicht aufgenommen haben in unserer „offenen“ Gesellschaft, sodass sie gegenüber einem Nationalisten immer noch Heimatgefühle entwickeln. Als Dönerproduzenten und billige Urlaubsanbieter nehmen wir türkische Nachbarn gerne wahr, aber ansonsten sind die zu Hause so gastfreundlichen Mitbewohner nur geduldet. Trotzdem: Wie will Erdoğan ohne die Jugend und Intelligenz aus den Städten an den Küsten diese Türkei aus der schweren Wirtschaftskrise führen?

DIETMAR RAUTER, Kronshagen