Notizen vom Pariser Karneval gegen die Wahlfarce: 2017 wird nicht stattfinden
Globetrotter
von Elise Graton
Vor dem Ausgang der Pariser Metrostation Ménilmontant bin ich kurz verunsichert. Hier stehen knapp 30 Leute, obwohl eine Nebenstraße weiter sieben Polizeibusse parken. Ich kann mir vorstellen, dass es in allen Himmelsrichtungen das gleiche Aufgebot an Ordnungskräften gibt. Es ist der 1. April und ich komme ins Grübeln: War die angekündigte Demo nur ein Scherz? Zur Sicherheit frage ich einen jungen Mann, der das Nichtgeschehen beobachtet. „Ja“ bestätigt er, „hier startet der Carnaval contre la mascarade électorale.“
Zum „Karneval gegen die Wahlfarce“ hat die „Génération ingouvernable“ (Unregierbare Generation) geladen. Mir hatte eine Freundin davon erzählt, die ich vor Ort leider nirgends entdecke. Weil der Mann so zuversichtlich auf meine Frage antwortet, frage ich gleich weiter: Ob er auch zum Kollektiv gehört? „Nein“, antwortet er verträumt. „Ich wäre mir auch nicht so sicher, ob es sich dabei nicht einfach nur um eine kleine Facebook-Gruppe handelt.“
Da hatte ich anderes gehört: Im Anschluss an die Anti-Arbeitsgesetz-Demos im Frühling 2016 soll sich eine Génération ingouvernable zusammengefunden haben, wobei ein Treffen Ende Januar in Montreuil am östlichen Rand von Paris als Geburtsstunde der Bewegung gilt. Dabei sollen symbolträchtig Wahlkarten verbrannt worden sein.
Der junge Mann, der Samuel heißt, hört interessiert zu. „Viele Leute haben sich radikalisiert“, kommentiert er. „Die Brutalität der Polizei bei den Frühlingsdemos hat dazu beigetragen.“ Er selbst sei schon lange in der autonomen Szene unterwegs, doch Nuit debout hatte viele unbescholtene Bürger angezogen, die jene Gewalt nicht kannten. „Die Leute waren gekommen, um zu reden. Sie wollten sich politisch engagieren und gemeinsam eine humanistische Zukunft gestalten“, erinnert er sich melancholisch. „Wir wurden immer wieder grundlos eingekesselt, da ging bei einigen das Vertrauen in die politische Elite verloren.“ Er bohrt die Hände tief in die Manteltaschen und blickt traurig über den Platz. Auf dem Boden vor uns entrollt jemand ein Banner mit dem Spruch „Élec… quoi?“. Wahl was?, könnte man übersetzen.
Inzwischen sind ein paar mehr Leute hinzugekommen, manche in Camouflage. Neben uns stehen fünf Kumpels mit Fuchsmasken. Zur Demo fehlt es aber noch merklich an einer Orientierung. „Eigentlich ist das hier repräsentativ für die aktuelle Lage“, meint Samuel. „Tote Hose. Wir warten auf die Wahl, während der Wahlkampf in historische Niveaulosigkeit abgleitet. Und es ist und bleibt ein Rätsel, wie das Ganze nun ausgehen wird.“ Er erzählt mir von Freunden, die noch nie gewählt haben, und es jetzt auf einmal tun wollen. Und wie die, die immer wählten, sich nun weigern würden. Die Lager werden hektisch hin und her gewechselt. In meinem Umfeld sieht es genauso aus, stimme ich zu. Alle sind einfach nur ratlos.
„Ich bin jedenfalls auf alles gefasst: Fillon schreibt sich krank, Hollande erlebt sein Comeback“, scherzt Samuel. „Oder: 2017 wird nicht stattfinden! Wie man derzeit so schön sagt.“ Den Spruch hatte ich auch schon gehört, weiß aber nicht, von wem er stammt – nur dass er dem Theaterstück „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ von Jean Giraudoux entlehnt ist. Das erschien 1935 und thematisiert die damalige diktatorische Wende in Europa. „Ich bezeichne mich eigentlich als idealistischen Anarchist, und bin damit immer gut gefahren“, lässt mich Samuel wissen. „Ich habe nie gewählt, und es fühlte sich gut an. Nach Trump muss ich das nun überdenken.“
Plötzlich kommt etwas Bewegung in die Sache. In der Mitte des Platzes errichtet eine junge Aktivistin eine Guillotine aus Pappmaché. „Wer will der erste sein?“, ruft sie in die Menge, die sich lachend um sie versammelt. Auch Samuel grinst. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich über diesen szenischen Einfall freuen kann“, sagt er. Auch mir ist das zu platt – und zu blöd: Mit dem Symbol verbinde ich eher vergossenes Blut als die Befreiung von einer weltfremden Elite. Ich muss eh los und verabschiede mich von Samuel. Der will noch etwas bleiben und das Geschehen beobachten.
Elise Graton arbeitet als Übersetzerin in Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen