Wie ein Mast auf hoher See

ROMAN Die Operndiva und ihre Souffleuse: Mit „Gilsbrod“ gelingt Sabine Bergk eine Satire auf das Theater

Da gerinnt die Milch im Kaffee, wenn die Gilsbrod ihren Höchstton übt

Dieses Buch schreit nach einer Bühne. Es will laut gelesen werden. Oder wenigstens in einem Rutsch. „Frau Gilsbrod hat gesagt non sara und ich habe ihr zugeflüstert non so und Frau Gilsbrod hat mich angestarrt von der Bühne aus mit ihrem wütenden Gilsbrodblick und ich habe sie angestarrt und sie hat mich wieder angestarrt und hat ihre Zähne gefletscht“.

Sabine Bergks „Gilsbrod“ ist das aufbrausende Solo einer Souffleuse und rauscht in fortwährendem Crescendo-Decrescendo dahin. Das schmale Bändchen umfasst einen einzigen atemlosen Satz ohne Punkt oder Pause, eine mitreißende Gedankenstromschnelle, in der sich die Wiederholungswellen kräuseln. Die 1975 geborene Autorin hat bereits mehrere Theaterstücke, Libretti und Liederzyklen geschrieben und an Stadttheatern wie Bonn, Magdeburg und Freiberg Opern inszeniert. Daneben arbeitet sie bei einer Künstleragentur für Opernsängerinnen und Dirigenten.

Ebendiese Spezies nimmt Bergk in ihrem Prosadebüt aufs Korn. Dabei lässt sie Souffleuse gegen Sopranistin antreten. Von unten schaut sie auf die da oben, aus dem Dunkeln auf die im Licht: auf die Sängerin Gilsbrod, Grand Dame an einem kleinen Stadttheater, mehr gefürchtet als bewundert, die als grelle Karikatur der klassischen Rampensau gezeichnet ist: „die Gilsbrod rast ja immer mit einem solchen Affenzahn direkt an die Rampe“ und interessiert sich „im Grunde auch gar nicht für Musik, sondern nur für sich selbst“. Alles umkreist den Moment, in dem die Diva ihren Text vergisst und in den Orchestergraben zu fallen droht. Die Souffleuse muss darüber schrecklich lachen und bekommt deshalb den entscheidenden Satz nicht über die Lippen. Was in Echtzeit höchstens ein paar Sekunden dauern dürfte, wird ins Unendliche zerdehnt, ausgebeult von Fantasien und Erinnerungen.

Wir sitzen als Leser mit am Bühnenrand, wo die Souffleuse sich den Hals verrenken muss und von der goldenen Muschel in der Bühnenmitte, in der einst ihre Mutter saß, nur noch träumen kann. Wir befinden uns also mittendrin im wirren, wild fabulierenden Kopf dieser entrechteten Unsichtbaren. Hier fransen die Gedanken beständig aus und wuchern ins Abseitige. Das Flüstern der Souffleuse verkehrt sich zum Wutschrei, der das ganze aufgestaute Seelenleben hervorsprudelt und durch Liebesrausch und Todesnähe, Schulzeittrauma und Größenwahn tänzelt.

Das geht einher mit ausgeprägter Lust an der Übertreibung, die alles ins Drastische und Monströse vergrößert, so dass man sich bereits nach wenigen Seiten aus der Sphäre des Realistischen hinauskatapultiert weiß. Da gerinnt die Milch im Kaffee, wenn die Gilsbrod ihren Höchstton übt, oder werden Chorherren von niedersausenden Scheinwerfern dezimiert.

Souffleuse vs. Sopranistin

Genüsslich dichtet Bergks Souffleuse der Diva nicht nur Affären mit dem Intendanten, dem Dirigenten und dem Oboisten, sondern auch diverse groteske Körperanomalien an, von den furchterregend großen Gilsbrodzähnen über eine vaginal eingenähte Oboe, die die Gilsbrodstimme erst in ungeahnte Höhen steigen lässt, bis zum überdimensionierten Zäpfchen im Gilsbrodrachen, das im Vibrato „wie ein Mast auf hoher See“ schwankt. So bläht sich auch die Lappalie der vergessenen Textzeile zur Katastrophe auf: „wenn die Gilsbrod jetzt ihr viergestrichenes C im fortissimo singt, werden die ersten Reihen ohnmächtig und die Scheinwerfer fallen von den Decken und der Rang bricht zusammen und die Gilsbrod weiß, dass der große Kronleuchter schon in sich zittert und nur noch an einem Faden hängt“.

Was Bergk zu Bruch gehen lässt, ist die Illusion vom Theater als hehrer Kunstsphäre. Etliche Stadttheaterklischees werden hier auf die Übertreibungsschippe genommen; es raunt der Kantinentratsch, schwatzen die Techniker auf der Hinterbühne, wollen einsparwütige Bürgermeister das Theater zur Sparkasse machen und rückgratlose Intendanten sich dem despotischen Willen der Muse unterordnen.

Nein, die Theaterwelt ist keineswegs eine bessere. Auch hier regieren Egoismus, Ruhmsucht, Hierarchiegläubigkeit und Kleingeist. Auf der Bühne und hinter den Kulissen spielen sich zwar diverse Dramen ab – bloß keine Kunst. Man wünscht dieser vergnüglichen Theaterbetriebssatire, dass sie nicht nur ihr szenebedingt interessiertes Lesepublikum finden möge, sondern auch den Weg auf die eine oder andere Bühne, ein paar Fitzelchen Rampenlicht. ANNE PETER

■ Sabine Bergk: „Gilsbrod“. Dittrich Verlag Berlin, Berlin 2012, 130 Seiten, 14,80 Euro