Endlich wieder lächeln

Türkei Wenn beim Referendum am Sonntag eine Mehrheit mit Hayir (Nein) stimmt, wird nicht alles gut. Aber es wird wenigstens nicht sofort alles schlechter

Die Wahl ist zwischen schlechter Gegenwart und viel schlechterem Einmannregime Foto: Bradley Secker/laif

von Banu Güven

Am Abend des 16. April werden in der Türkei viele den Atem anhalten. Wer einschlafen kann, wird am nächsten Morgen in einer von zwei möglichen Welten aufwachen. Eine von ihnen – bei Nein – wird der heutigen Türkei sehr ähneln.

Wie lässt sich nur die andere erklären? Das Land wird einen uneinschätzbaren Paradigmenwechsel erleben. Oder vielleicht ist dieser Vergleich besser: Es wird eine Reise in einen dunklen Tunnel beginnen, bei der unklar ist, was an ihrem Ende stehen wird. Theoretisch ist klar, was dort sein wird: Die Verfassungsänderungen liegen uns vor. Doch wie das Leben praktisch aussehen wird, weiß noch keiner so recht.

Wenn am kommenden Sonntag beim Verfassungsreferendum in der Türkei 50,1 Prozent der Wähler*innen hingegen mit Nein stimmen sollten, werden wir mit unseren heutigen Sorgen weiterleben müssen, aber mit einem Unterschied: Jene Mitbürger*innen, die sich dieser Tage so sehr für die Erhaltung der Demokratie einsetzen, werden gestärkt in den neuen Tag gehen.

Die Gesichter der zahlreichen Demokrat*innen werden, wenn auch aufgrund eines nicht sehr demokratischen Referendums, nach langer Zeit zum ersten Mal wieder lächeln. Dieses Gefühl, eine „verzweifelte Minderheit“ zu sein, das sie nach den Gezi-Protesten 2013 und nach den für ungültig erklärten Parlamentswahlen im Juni 2015 hatten, werden sie endlich loswerden können. Sie werden sich fühlen, als hätten sie einen schweren Lastwagen gestoppt, der mit voller Geschwindigkeit bergab rollt. Bevor er noch mehr Menschen in den Tod reißt.

Statt eines neuen Einmannregimes wird weiterhin unser parlamentarisches System bestehen. Auch wenn das heutige System nicht richtig funktioniert, auch wenn 13 Abgeordnete immer noch in Haft sitzen: Das Parlament wird bleiben, wo es ist. Somit werden immerhin lebenswichtige Entscheidungen von gewählten Vertretern des Volkes mitgetroffen. Sie werden Gesetzentwürfe verhindern können, wie kürzlich jenes, das eine Strafmilderung für Vergewaltiger vorsah, wenn sie sich entscheiden, die Opfer zu heiraten.

Wird die Regierungspartei AKP in die Brüche gehen, wenn es zu einem mehrheitlichen Nein kommt? Werden Abtrünnige eine neue Partei gründen, wie aus manchen Quellen zu hören ist? Solange Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer noch die Strippen der Justiz zieht, ist diese Prognose nicht sehr realistisch. Denn wir befinden uns in einer Zeit, in der jeder, der sich kritisch äußert, zum Staatsfeind erklärt wird. Das wird sich auch mit dem Nein nicht von heute auf morgen ändern. Alle Lager handeln mit äußerster Vorsicht. Wenn fast fünfzig Prozent des türkischen Volkes für die Alleinherrschaft Erdoğans stimmen, ist es klar, dass eine neue Partei aus Abtrünnigen der AKP wenig Erfolg haben wird. Wieso also nicht das Spiel weiterspielen, um das eigene Amt zu schützen, bis neue Wahlen anstehen?

Über die kurdischen Wäh­ler*innen heißt es, sie würden das Referendum boykottieren. Das wünscht man sich wohl in Regierungskreisen. Zwar sitzen die von ihnen gewählten Abgeordneten und Bürgermeister seit Monaten in Haft, doch die Wähler*innen der prokurdischen linken Partei HDP wollen trotzdem wieder an die Wahlurne gehen. Mit Nein stimmen heißt für sie nämlich, den jahrelangen Kampf um Demokratie fortzusetzen. Auch wenn sie derzeit im Parlament so gut wie nicht vertreten sind, wissen sie: Es kann noch schlimmer kommen. Deshalb ist das Festhalten am heutigen parlamentarischen System das kleinere Übel. Es gibt Umfragen, nach denen 65 Prozent des Volkes vorhaben, mit Nein zu stimmen.

Es fühlt sich an wie ein schwerer Last­wagen, der mit voller Geschwindigkeit bergab rollt

Vor allem Frauen sind darunter. Schon am 8. März sah man sie hoffnungsvoll die Straßen stürmen. Sie werden glücklich sein, wenn es zu einem Nein kommt. Sie werden sich endlich gegen eine patriarchale Regierung durchgesetzt haben, die bestimmen will, wie viele Kinder sie gebären sollen und ob Abtreibungen moralisch vertretbar sind. „Mein Körper, meine Entscheidung“ wird nicht mehr nur ein Slogan sein.

Doch was passiert, wenn es am Sonntag zu einem mehrheitlichen Ja kommt? Dann wird der Lastwagen mit voller Geschwindigkeit weiterrasen. Bis er früher oder später gegen eine nicht umzustürzende Wand fährt.

Aus dem Türkischen

von Fatma Aydemir