Alles wird gut

GEFÄNGNISTHEATER Sechs Stunden Probe, und das dreimal die Woche – in der „Winterreise“ in der Jugendstrafanstalt Charlottenburg wird mit Schubert und HipHop das Durchhaltevermögen geübt

Schubert und junge Knastis, Hochkultur und Musik, die aus den Ghettos kam – es sind wohl diese Gegensätze, die das Projekt reizvoll erscheinen lassen

VON JENS UTHOFF

An der Besucherpforte stehen zwei Teenie-Mädchen. Sie geben ihre Liebesbriefe ab und verschwinden wieder. Wenig wirkt romantisch an diesem großen, roten Backsteingebäude. Ein Stacheldraht zieht sich in Rollen um das gesamte Gelände. Uniformierte sitzen am Empfang. Sie überprüfen Ausweise. Am Einlass muss man spitze Gegenstände, Handys und Schlüssel zurücklassen. Dann darf man hineingehen.

Dort hineingehen, wo 400 jugendliche Häftlinge beherbergt werden. Und wo nun ein Werk der literarischen Romantik Einzug hält: Seit dem Frühjahr arbeiten Gruppen von Inhaftierten in der Jugendstrafanstalt in Charlottenburg (JSA) an einer HipHop-Neufassung von Franz Schuberts „Winterreise“. In zehn Modulen, je vierteljährig, werden Musikstücke, Theateraufführungen oder Videoclips zu dem Liedzyklus erstellt. Derzeit entstehen zwei Kurzfilme zum zwölften Schubert-Lied. „Einsamkeit“ heißt es.

Die 16 Teilnehmer des dritten Moduls sind wegen unterschiedlichster Delikte hier. „Da ist von Körperverletzung über Raub bis zu Tötungsdelikten alles dabei“, sagt Sozialpädagogin Janina Deininger, Pressesprecherin der JSA.

Schubert und junge Knastis, Hochkultur und Musik, die aus den Ghettos kam – es sind wohl diese Gegensätze, die das Projekt reizvoll erscheinen lassen. Für Deininger ist die Arbeit erfolgversprechend: „Wir haben hier Gefangene, die noch nie positive Rückmeldungen in dieser Gesellschaft bekommen haben“, sagt sie, „sie waren nie erfolgreich in ihrem bisherigen Leben. Es ist wichtig, dass sie überhaupt mal irgendwo Erfolgserlebnisse haben“. Dass sie am Ende etwas geschaffen und geschafft hätten, gebe ihnen Bestätigung. Das sei ein erster Schritt.

Es ist früher Nachmittag. Im Theatersaal der JSA findet eine Vorübung statt. „Ich liebe das Leben. Alles wird gut“, schallt es durch den Raum. Leise sprechen die heute nur 13 Gruppenteilnehmer vor sich hin, gehen dabei durch den Raum, der wie der Saal eines Jugendheims wirkt. Nun werden sie lauter, wie Hüseyin es gefordert hat. Regisseur Hüseyin Yildiz leitet die Gruppe, gemeinsam mit der Dokumentarfilmerin Neelesha Barthel. Gerade wirkt es ein bisschen wie Gruppentherapie, was sie da treiben. „Ich liebe das Leben. Alles wird gut“, brüllen die Teilnehmer nun laut durch den Raum.

Einige sind in Arbeits-, andere in Freizeitkleidung gekommen. Blaumann und grauer Jogger wechseln sich ab, mehr steht nicht zur Auswahl in der JSA. Während sie weiter durch den Raum wandeln, stoßen sie sich vielleicht mal in die Rippen, sonst wirken sie konzentriert. Ein Schwarzer ist dabei, Jugendliche aus der Türkei und dem Nahen Osten, Deutsche. Viele sind blass. Hautunebenheiten verraten, dass die Pubertät zum Teil noch andauert. „Kurze Pause und dann machen wir mit den Kleingruppen weiter“, sagt Hüseyin. Nun wirkt auch das Verhalten pubertär: Kaum ist eine Sekunde Leerlauf, krakeelen die Teilnehmer herum und dissen sich.

Die JSA ist eine Strafanstalt nur für männliche Häftlinge. An dem Video-Modul nehmen Inhaftierte zwischen 17 und 23 Jahren teil. Die Probe heute dauert sechs Stunden. Dreimal pro Woche treffen sie sich.

Die Straftat der Teilnehmer soll dabei keine Rolle spielen. „Wir wissen in der Regel nicht einmal, wer wegen welches Delikts hier ist“, sagt Projektleiterin Barthel. Skepsis aber war vorher bei ihr da. „Ich hatte schon Bedenken, hier als Frau mit hormongesteuerten, männlichen Inhaftierten zusammenzuarbeiten. Aber die respektieren mich voll und ganz. Erst haben sie natürlich blöde Kommentare von sich gegeben von wegen: Sie ist die Chefin?“

In Schuberts Zyklus geht es um einen Wandersmann, der seine Liebe hinter sich lässt und wehklagend durch den Winter zieht. Die Jugendlichen, die allenfalls beim Hofgang frei herumwandern, sitzen nun im Klassenzimmer. Es sieht aus wie in der Schule – bis auf die Gitter. Die Tische sind in U-Form angeordnet. Thema ist jetzt das Setting. „Wie drehen wir die Friedhofsszene am besten?“, fragt Barthel. „Sollen die Schauspieler vielleicht schwarze Anzüge tragen?“, fragt einer. Die Kleingruppe diskutiert die Vorschläge.

Tobi*, 23, ist einer der Teilnehmer. Er ist wegen Beschaffungskriminalität seit 2006 immer mal wieder in der JSA, erzählt der kleine, stämmige Mann in der Pause. Was er aus der kreativen Arbeit lerne? „Durchhaltevermögen und Disziplin“, sagt er, und ergänzt: „Hoffentlich.“ Er selbst entwirft gerne elektronische Musik am Computer und versucht dies einzubringen. Issam*, 22, kommt dazu. „Hier drinnen bin ich reifer, erwachsener geworden“, erzählt er. Die Schauspielerei hat ihn „lockerer gemacht“, sagt er.

Der Musiker und Workshopdozent Jörn Hedtke alias kronstädta hat diese „winterREISE“ gemeinsam mit aufBruch, die seit 15 Jahren Theater im Gefängnis machen, entwickelt. Schirmherr ist Herbert Grönemeyer, der auch zum Abschluss des ersten Moduls zu Besuch kam.

Die Kurzfilme des aktuellen Moduls werden am 13. Dezember im Knast gezeigt. Noch bis Herbst 2014 wechseln sich dann in den Workshops Theater, Musik und Video ab. So lange dauert die Winterreise der JSA noch an, so lange wird Schuberts Wandersmann bevorzugt in Ghetto-Slang adaptiert.

* Name geändert