Das Grinsen des Braunbären

FUSSBALL Vor beeindruckender Kulisse gewinnt Hertha verdient 1:0 gegen St. Pauli. Trotzdem: Der einzige Star der Berliner bleibt ihr Maskottchen Herthino

Ein Flitzer aus dem Publikum überzeugt kurz nach Anpfiff mit seiner Performance

„Die S-Bahn-Fahrt war genauso spannend wie die 90 Minuten“, sagt mein Kumpel P., nachdem wir die Tortur überstanden haben. Zuvor herrschten Tokioter Verhältnisse an der Station Olympiastadion: Es ist extrem muggelig, wie die norddeutschen Gäste aus St. Pauli sagen würden. Während man wie Vieh eingepfercht heimfährt, betet ein Hertha-Fan die Spielstatistik runter: „23 zu 12 Torschüsse, ich bitte dich, natürlich war das ein verdienter Sieg!“, brüllt er seinem St.-Paulianer Stehnachbarn ins Ohr.

Recht hat er: Hertha hat ein verdientes 1:0 gegen den FC St. Pauli errungen. Damit ist das Team von Jos Luhukay seit zwölf Spielen ungeschlagen, das ist Vereinsrekord. Erst fünf Minuten vor Schluss köpfte Ben Sahar das Siegtor. Schon zuvor aber hatte die Defensive der Hamburger um Gegentore gebettelt: Über die Außen luden sie die Hertha-Spieler zum fröhlichen Kombinieren oder Flanken ein, als wolle man nur ungern ohne Gegentor zurückfahren. „Die haben nur den Torwart nicht gebrieft“, trägt Kumpel J. zur kurzen, knackigen Spielanalyse bei. In der Tat: Zuvor war es vor allem Gästekeeper Philipp Tschauner gewesen, an dem Ramos, Ronny, Ndjeng + Co. reihenweise verzweifelt waren.

Die erste Halbzeit ist kein fußballerisches Schmankerl. Nur ein Flitzer aus dem Publikum überzeugt kurz nach Anpfiff mit seiner Performance: Unbemerkt von Ordnern und Schiedsrichter gelangt er über den Zaun aufs Feld. Der St.-Pauli-Fan dreht eine kleine Runde auf dem Grün, um die Stimmung aufzulockern. Dem Schiedsrichter will er eine Nikolausmütze aufsetzen, aber das misslingt. Das mit dem Stimmungauflockern auch. Nach einer kleinen Ehrenrunde ist er eingefangen.

Aus Hälfte eins bleibt nur die Erkenntnis, dass Maskottchen Herthino der einzige Star der Hertha bleibt. Wenn man als Hertha-Fan schon Zweitliga-Fußball im November über sich ergehen lassen muss, so lächelt am Ende doch wenigstens der Braunbär. Die Sympathiewerte des Fellträgers nutzt jetzt im Übrigen auch die S-Bahn – Herthino trägt fortan ein „S“ auf dem Bauch spazieren. Und in der Halbzeit gibt es noch ein S-Bahn-Gewinnspiel: kleine Charme-Offensive am Rande, bevor die Gleise bald wieder einfrieren.

Die zweite Halbzeit bietet den knapp 40.000 Zuschauern ein wenig mehr Fußball: Fünf Minuten nach Wiederanpfiff taucht Marcel Ndjeng frei vor dem gefürchteten Gästetorwart auf, der mit einer Fußabwehr im Stil eines Handballtorwarts pariert. Zehn Minuten später verhindert nur Akaki Gogia den Führungstreffer des Herthaners Peter Niemeyers. Die Gäste in Braun-Weiß kontern einige Male gefährlich über den wieselflinken Fin Bartels, Hertha bleibt das Team mit der besseren Spielanlage. Und doch nutzt vorerst alles Grinsen des Braunbären nichts, der Ball will nicht rein. Bis Ben Sahar eingewechselt wird – und wenige Minuten später köpft. St. Pauli wehrt sich dann noch mal, aber zu spät.

Für die gegnerische Fanschar haben die Hertha-Fans auch noch was vorbereitet: „Von Captain Hook zum Hipster-Club. Glückwunsch St. Pauli!“, steht auf einem Banner. Stimmlich aber sind die Hamburger ebenbürtig: Sie singen von Europapokalträumen und vom brutalen Aufwachen in Liga zwei. Geht es so weiter, wird zumindest die Hertha nicht mehr lange in dieser Liga aufwachen. JENS UTHOFF