Berliner Szenen: Einer der Guten
Die Warnweste
Ich habe mir fürs Fahrrad eine gelbe Warnweste gekauft und fühle mich dadurch im Dunkeln sicherer. Vor allem stelle ich mir vor, dass die Autofahrer es als Entgegenkommen werten und nun wissen, dass ich einer von den Guten bin. Es gibt ja auch böse Radfahrer, die uns gute immer in Verruf bringen.
Dabei geht es nicht ums Verletzen der Verkehrsregeln, die verletze ich auch dauernd, es muss ja auch Vorteile haben, mit dem Rad zu fahren, aber ich gefährde oder belästige dabei niemanden, darauf achte ich streng. Die Weste soll den Autofahrern sagen: Ich weiß, wie schwer ihr es habt, uns im Dunkeln zu sehen, bei mir können sich eure müden Augen erholen. Das Problem ist, dass die Weste meiner Tochter so peinlich ist, dass wir jetzt immer getrennt fahren müssen. Ich sei damit ein richtiger „Prenzlauer-Berg-Papa“. In der Jugend sucht man ja den Kick, indem man sich unnötigen Risiken aussetzt, nicht auf seinen Körper hört und sich „verschwendet“. Ich muss das bisschen Lebenszeit, das mir bleibt, aber sorgsam hüten, und jedes zu starke Lüftchen könnte die nur noch schwach glimmende Lebenskerze ausblasen.
Ich kann mir deshalb vorstellen, dass ich die Warnweste auch irgendwann zum Spazierengehen anziehe, ich werde ja oft angerempelt oder von Kellnern übersehen. Wenn man das Altwerden gar nicht mehr so schlimm findet, wird man vielleicht alt. Na und? Ich könnte mir vorstellen, dass es mich entlastet, wenn ich die Schrift vom „Berliner Fenster“ in der U-Bahn nicht mehr lesen kann, wenn ich das beißende Gezischel fremder Kopfhörer nicht mehr wahrnehme, wenn ich auf dem Fahrrad gemütlich aufrecht sitzen darf und nicht mehr sportlich-aerodynamisch nach vorn gebeugt. Vielleicht habe ich dann ja auch Enkel, die mir ihr Herz ausschütten, was sie bei ihren peinlichen Eltern nie machen würden. Jochen Schmidt
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