„Jeden einzelnen Schüler fördern“

Bundestagspräsidentin a. D. Rita Süssmuth wendet sich von der dreigliedrigen Schule ab. Das „ständische Schulwesen“ wird einer Wissensgesellschaft nicht gerecht. Die CDU-Politikerin will eine Lernkultur, in der wir bei den Stärken der Schüler ansetzen

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Frau Süssmuth, Sie unterstützen die neue Länger-lernen-Initiative. Was heißt „länger gemeinsam lernen“?

Rita Süssmuth: Unser Ziel ist, dass die Schule die Kinder künftig weniger früh voneinander trennt. Heute werden Schüler in der Regel nach der vierten Klasse auf unterschiedliche Schultypen aufgeteilt. Statt dieser harten Übergänge wollen wir uns um ein fließendes Umsteigen bemühen. Das Bildungssystem muss durchlässiger werden.

Sie wollen den Kardinalstreit um die dreigliedrige Schule wieder anheizen?

Nein, das wollen wir ausdrücklich nicht. Wir wollen nicht die leidige Strukturdebatte neu führen. Da gehen die Jalousien der Menschen sofort runter. Uns interessiert das Wohl des Kindes. Wie kann eine bessere individuelle Förderung jetzt sofort beginnen, heißt die Frage. Denn in dieser Disziplin sind die deutschen Schulen nachweislich nicht besonders gut.

Warum jetzt sofort?

Ein Viertel der Jugendlichen ist nur bedingt ausbildungsfähig. Das wissen die Handwerksbetriebe schon lang. Die internationale Pisastudie hat dafür nun zum zweiten Mal eine Art empirischen Beweis geliefert. 25 Prozent Risikoschüler, dieser Tatbestand hört sich für viele offenbar wie eine nüchterne Zahl an. In Wahrheit verbirgt sich dahinter ein gesellschaftlicher Skandal: Wir verbauen einem Viertel der jungen Leute den Weg in die Zukunft. Das muss sich ändern. Das schulden wir dem einzelnen Kind, und wir schulden es uns als Gesellschaft.

Was ändert es, die gemeinsame Schulzeit auf neun Jahre auszudehnen?

Es geht gar nicht so sehr um die Zeit. Ein anderer Unterricht ist das Ziel. Der Mythos hinter dem deutschen Ausleseprinzip heißt homogene Lerngruppe. Es herrscht immer noch die Annahme, dass man durch rechtzeitiges Sortieren der Schüler homogene Gruppen schaffe und es dadurch Einheitlichkeit im Klassenzimmer gebe.

Und die gibt es nicht?

Nein, die Forschung zeigt uns: Durchwegs uniforme Lerngruppen gibt es gar nicht, auch dann nicht, wenn ich etwa nur hoch begabte SchülerInnen zusammensetze. Auch dort herrscht Vielfalt, jeder Lerner ist einzigartig. Die Schule muss endlich verstehen, dass heterogene Gruppen mehr und besser lernen.

Aber unsere Pisaergebnisse verbessern sich. So erklären es uns die Kultusminister.

Niemand will an den relativ guten bayerischen Pisaresultaten herumdeuteln. Nur ist es doch so: Wenn die Annahme wirklich stimmte, dass man in homogenen Gruppen am besten lernt, dann müsste Deutschland ganz vorne beim Weltvergleich des Lernens stehen. So ist es aber nicht. Im Gegenteil: Andere Länder, die das Prinzip Vielfalt in der Klasse anwenden, stehen weit vor uns – gerade was die Zahl der Risikoschüler betrifft.

Das individualisierte Lernen ist ein Fetisch geworden. Wie geht das eigentlich?

Wir müssen jedes Kind da abholen, wo es steht, und jedes Kind steht eben woanders. Am besten ist es, die Stärken des einzelnen Schülers zu suchen. Bislang ist das Schulsystem – ich sage ausdrücklich das System, nicht der Lehrer – darauf geeicht, bei den Schwächen des Schülers anzusetzen und ihn in die einzelnen Schultypen einzuteilen.

Wie heißt das neue Prinzip?

Von den Stärken ausgehen – und dann individualisieren. Wo sind die Talente, wie kann ich den Prozess fördern, dass der einzelne Schüler sich weiterentwickelt?

Wie soll das gehen in Klassen mit 25 bis 30 Kindern?

Indem man die Klassen in Kleingruppen aufteilt. Immer wieder muss die Klasse in Gruppen differenziert werden. Das unterscheidet sich von Fach zu Fach, von Lernsituation zu Lernsituation. Finnische Lehrer sind, so viel wissen wir, wahre Künstler darin, sich ihre Lerngruppen immer neu und individuell zusammenzustellen.

Eine enorme Anforderung an die Lehrer!

Aber es geht. Das zeigen viele Grundschullehrerinnen tagtäglich. Der Lernansatz des Binnendifferenzierens fehlt heute weitgehend in unserem Schulsystem. Dabei gab es diese Didaktik früher in den Volksschulen, wo alle Lernniveaus in einem Raum versammelt waren.

Welchen Namen hat diese neue Schule?

Die meisten Schulen international haben verschiedene Formen des comprehensive learning. In Deutschland kommen wir aber mit dem Begriff der Gesamtschule nicht weiter. Da sind die bitteren Erfahrungen aus dem Schulkampf der 70er-Jahre noch zu frisch. Wir wollen mit unserer Initiative nicht wieder in die alten Gräben hinein. Deswegen sprechen wir von „länger gemeinsam lernen“. Im Mittelpunkt steht eine andere Art des Lernens. Wenn heterogene Lerngruppen erst einmal bessere Ergebnisse als die pseudohomogenen erzielen, stellt sich die Strukturfrage ganz neu und anders.

Das klingt diplomatisch – und verkleistert einmal mehr, dass die deutsche Schule ein pädagogisches Apartheidssystem darstellt.

Wir haben in Deutschland ein ständisches Schulwesen. Die Hauptschule entspricht der früheren Volksschule fürs gemeine Volk. Die Realschule nimmt die Mittelschicht auf, das Gymnasium wendet sich an eine Bildungsoberklasse. So sieht, wenig überzeichnet, die heutige Schulstruktur aus. Und die reicht nicht mehr für eine Wissensgesellschaft mit einer dramatisch sich beschleunigenden Alterung. Wir müssen jeden einzelnen Schüler voranbringen, weil wir jeden später als Bürger und als Finanzier des Sozialsystems brauchen. Wir können uns die dreigliedrige Schule schlicht nicht mehr leisten. Die Ersten, die das erkannt haben, sind die Unternehmen.

Aber wie wollen Sie das institutionell voranbringen? Die Kultusminister fechten einen harten Kampf gegen das, was sie erreichen wollen.

Es wird ein langer Weg. Die Debatte um die Schulformen ist immer noch völlig verkrustet, ich weiß das. Gerade deshalb brauchen wir eine Reformbewegung, die von innen heraus zeigt, dass auch hoch begabte SchülerInnen durch inneres Differenzieren in der Klasse noch besser gefördert werden, als wenn man sie in eine Spezialschule steckt. Diese Bewegung wird deutlich machen, dass die Kinder durch eine andere, individuelle Lernförderung weiterkommen als im traditionellen System.

Welche Rolle spielt Pisa dabei?

Jenseits aller Details heißt die erschütternde Botschaft von Pisa: Ihr beginnt zu spät mit dem Lernen – und ihr sortiert die Schüler zu früh. In keinem System der Welt ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, zwischen Elternhaus und Bildungschancen so hoch.

Wenn Sie ein so großes Rad drehen wollen, wäre es dann nicht notwendig, andere Bündnispartner zu gewinnen?

Die Initiative ist schon jetzt sehr weit gespannt, auch die Eltern sind ja etwa über den Bundeselternrat mit von der Partie. Aber unser Netz wird sich um soziale Institutionen und Partner aus der Wirtschaft erweitern. Daran sind das Handwerk und die Industrie sehr interessiert.