Das Bild von „den Türken“ bedient

betr.: „Es sind verlorene Söhne“, Interview mit Necla Kelek, taz zwei vom 23. 9. 05

Wir WissenschaftlerInnen sollten helfen zu verstehen, welche gesellschaftlichen, kulturellen, familiären und/oder persönlichkeitsbezogenen Muster hinter Ehrenmorden stecken und wie sie verhindert werden können. Emotionale und – insbesondere bezogen auf den Islam – unsachkundige Kommentare wie derjenige von Frau Kelek mit Bezügen zur persönlichen Familiengeschichte mögen Authentizität vorgaukeln, sie sind im Sinne der oben genannten Ziele von Wissenschaft jedoch kaum geeignet, Licht in das Dunkel um Fälle von Ehrenmord zu bringen. YASEMIN KARAKASOGLU, Bremen

Die pauschalen Äußerungen von Frau Kelek über „die türkische“ Familie sind populär in Deutschland. Sie bedienen das Bild über „die Türken“, das in Deutschland vorherrscht. Ein Wahlkämpfer der CDU wunderte sich, dass meine Frau aus der Türkei kommt. Sie bedecke ja ihr Haar nicht mit einem Kopftuch und habe so fortschrittliche Ansichten. Sie müsse wohl eine der seltenen Ausnahmen sein. Ich frage mich, welche Kämpfe täglich in den Familien ablaufen müssen, wenn ich so oft modern gekleidete, geschminkte junge Frauen sehe, die eine mit Kopftuch, die andere ohne. Selbst innerhalb der Familie Sürücü gibt es ein breites Spektrum. Der ältere Bruder von Hatun Aynur hat sich in einer Fernseh-Dokumentation auf die Seite seiner Schwester gestellt.

Ich habe die Bücher von Frau Kelek nicht gelesen. Aber wenn sie auch dort so wenig differenziert, kann ich mir das sparen.

JÜRGEN WESSLING, Hannover

Ich bin ziemlich frappiert, wie pauschal und falsch verallgemeinernd Kelek den Mord an Hatun Sürücü zu „erklären“ versucht. Es klingt arrogant, wie sie sich dabei selbst von Türken und Muslimen, die ansonsten offenbar komplett Idioten und Barbaren sind, abgrenzt – „Liebe, wie wir sie verstehen, kennen die doch gar nicht …“ Auf diesem Niveau bringt die Debatte wirklich niemandem etwas.

Es gibt inzwischen so viele türkische junge Sozialwissenschaftlerinnen, die aufrichtigere Feministinnen sind und fundierter argumentieren (siehe „Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis“, Themenheft Migration vor ca. drei Jahren, da findet man doch auch mal andere Namen). HILAL SEZGIN, Frankfurt am Main

Das Interviev mit Necla Kelek ist für mich eines der wichtigsten, das die taz in der letzten Zeit geführt hat. Weil hier Fragen verhandelt werden, die nicht nur über Lebensstile, sondern in Einzelfällen über Leben und Tod entscheiden.

Immer wieder ist die Angst vor dem Versagen Grund für Gewalt. In diversen „Parallelwelten“ werden Begriffe wie Hierarchie, Sünde, Verlust oder Verantwortung in einer Art und Weise interpretiert, die allem Verstand zuwider läuft. Die Gesellschaft muss sich dagegen wehren, sonst kann sie ihre Mitglieder nicht dauerhaft schützen. Nicht diejenigen, die aus den Parallelwelten ausbrechenen wollen, und die anderen auch nicht.

Diejenigen unserer Verhaltensweisen, die uns lebenslang begleiten, werden in der Kindheit ausgebildet. Was liegt also näher, als in Schulen und Kitas anzusetzen? Vor allem um die Jungen müssen wir uns bemühen. Sie, und nur sie, können den Teufelskreis von Dummheit, Angst und Gewalt durchbrechen. Wenn es gelingt, die „Lufthoheit“ über die Begriffe zu erobern, ist schon viel erreicht. Kommt dann noch ein Raum hinzu, in dem das Gelernte angewendet und gefestigt werden kann, besteht eine echte Chance auf Veränderung.

ANKE ZÖCKEL, Weimar

Irreführend und in der Konsequenz fatal an diesem Interview über die so genannten Ehrenmorde ist, dass von Islam gesprochen wird, wo eigentlich die patriarchalische Gesellschaft gemeint ist (und dies offenbar einfach deshalb, weil die patriarchalische Gesellschaft in Westeuropa vor allem von Muslimen repräsentiert wird).

Um dies zu belegen, genügt ein Blick auf andere Religionen oder Kulturen: Das geschilderte Rollenverhalten zwischen Mann und Frau kann man beispielsweise in ganz ähnlicher Form bei der Flüchtlingsgruppe der (hinduistischen) Tamilen beobachten. Wo gewisse Verhaltensweisen explizit auf den Islam zurückgeführt werden, wird es deshalb auch widersprüchlich. So etwa, wenn gesagt wird, im Islam dürfte nur Gott (nicht die Menschen) geliebt werden. Einige Zeilen später heißt es aber, dass die jungen Muslime ihre Mutter „unendlich“ liebten. Ja, was denn nun? Verhalten sie sich also alle unislamisch? ANDREAS UNGER, Berlin