Nase hoch

Am Wochenende wurden die norddeutschen Meisterschaften im Knastfußball in der JVA Lübeck ausgetragen, dem größten Gefängnis Schleswig-Holsteins. Für viele ist es ein Stück Selbstbehauptung, für manche echte Leidenschaft

von Jan Freitag

Einmal Christian Bogner sein. Einmal ein Ausbrecherkönig. Einmal rauf auf die Mauer, über den dichtgerollten Stacheldraht, Absprung Richtung Freiheit. Und dann? Flucht, Karibik, neue Identität? Nein: Ball holen und zurück – in den Knast. Gerade ist mal wieder einer über den fünf Meter hohen Zaun geflogen. „Wenn die mich jetzt hier rauslassen“, der junge Mann im bunten Trikot lacht trocken auf, „dann such ich die Pille, geh auf den Platz und hau sie rein“.

Es ist ein herrlicher Septembertag, die Sicherheitszäune der JVA Lübeck reflektieren das grelle Herbstlicht und der Häftling meint seinen Satz von eben wirklich ernst. Warum abhauen, bei ein paar Monaten Reststrafe. Gerade heute. „Ich will hier schließlich gewinnen.“

Schon seltsam, die Atmosphäre der XVI. Fußball-Landesmeisterschaften in Schleswig-Holsteins größtem Gefängnis. Seit 1990 wird dort auf einem Kleinfeld im Hof um den Titel der besten Knastkicker des Nordens gespielt. Zeit also für den Griff in die Vorurteilskiste: Kleinkriminelle und Lebenslängliche, Räuber, Dealer, Schläger, Mörder – alles harte Jungs, das dürfte rote Karten hageln. Doch statt eines Festival wüster Beschimpfungen und übler Tätlichkeiten erinnern die zehnminütigen Spiele eher an Fair-geht-vor-Kampagnen.

„Aufstehen Digger, keine Absicht.“ Fast scheint es dem Spieler des ersten Heimteams unangenehm, seinen Gegner am Bein getroffen zu haben. Der gefoulte Kieler steht klaglos vom Gummibelag auf, Handshake, weiter. Über das 0:1 wird er sich später mehr ärgern, über den vorletzten Platz seiner JVA hinter Teams aus Neumünster, Lübeck, Uelzen, Bützow und Schleswig sowieso. Doch dafür kann er auf einen Tag Urlaub vom Knastalltag zurückblicken. Ein Kurztrip vor die Mauern seiner Zwangsheimat, die angesichts der Tristesse aus Nintendo, Anstaltsarbeit und TV zur Weltreise wird.

Seit 1976 fördert die Sepp-Herberger-Stiftung den Fußball hinter Gittern, und innerhalb dieser Initiative war Lübeck-Lauerhof eine der ersten Justizvollzugsanstalten, die ihre Tore für auswärts kickende Knackis öffnete. Rolf Thimm, der das Turnier organisiert hat, wird etwas wehmütig. „Das ist mein letztes Turnier nach 16 Jahren“, sagt er und lässt einen Schwung Spieler zum Mittagessen durch die schwere Eisentür.

Fast die Hälfte seiner 53 Jahre arbeitet der Beamte im Vollzug, die meisten davon als Sportwart. Thimm nennt das „eine schöne Zeit“, was zu verstehen Unbeteiligten schwer fallen dürfte. Er hat sie alle ein wenig lieb gewonnen, die eigenen Insassen, die es sich im Lauerhof oft lebenslang einrichten, die Gäste aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und selten Hamburg, deren Äußeres meist so sehr auf Straftäter schließen lässt wie das von Miro Klose auf einen durchsetzungsfähigen Stürmer. Selbst die weitgereisten Ost-Häftlinge aus Bützow, die so stolz wie akkurat ihre Hakenkreuztattoos unter den Stutzen hervorblitzen lassen. Auf dem Platz, lautet Thimms Credo, geht es allen um Fußball. „Unser Turnier ist was Besonderes für die.“ Eine schöne Zeit eben. Die ist für den Staatsdiener im Trainingsanzug vorbei. Er geht ins Freigängerhaus, zu den Gutgeführten, den weicheren Fällen, weg vom ausgebuchten Zellenkomplex für 487 Häftlinge mit oft stattlichen Vorstrafenregistern.

„Ich kenne keine bessere Resozialisierungsmaßnahme als Sport“, beteuert Thimms Kollege Alfred Albrecht. Leider haben sich die Bedingungen für dessen Ausübung aber verschlechtert. „Wir haben alle unter der Bogner-Geschichte zu leiden“, sagt Albrecht. Jener Ausbruch des Schwerverbrechers Christian Bogner im Vorjahr aus Albrechts JVA, die durch eine erfundene Fluchtstory der BILD unlängst zum Sicherheitsrisiko hochgejazzt wurde.

Seither sei es schwer, die Freizeit der Häftlinge zu gestalten. Und noch schwieriger, dies gemeinsam mit Auswärtigen zu tun. „Du Fotze“, brüllt plötzlich der Mann mit der Nummer 8 aus Bützow und geht, ein seltener Vorfall, auf seinen Lübecker Gegenspieler los. Über seinem Ohr prangt „White Power“, und die schiedsrichterliche Drohung mit BZ, der Beruhigungszelle, perlt an seiner Großhirnrinde ab. „Der kocht auch nur mit Wasser“, wird der Beschimpfte später betonen. Gegenhalten, Stolz, Männlichkeit sind wichtig. Natürlich. Aber ist das auf den Fußballplätzen draußen anders?

Dennoch sind die Unterschiede da, ganz klar. „Wer hier mitspielen will, muss sich vorher gut führen“, meint ein Betreuer der Jugendanstalt Schleswig. Und wer sich zwischen den Torpfosten anständig benimmt, dürfe eher mal wieder mit, auch wenn kaum einer im Kleinstkittchen länger sitzt als ein Jahr. Ach ja – kicken sollte er können, keine Frage. Das fußballerische Niveau ist extrem hoch.

„Ich hab draußen 3. Liga gespielt“, sagt mit Robert Wrzesinski von der JVA Neumünster einer der wenigen, die ihren Namen nennen. Man sieht ihm sein Talent an, die Klasse, mit der er sein multinationales Team von Sieg zu Sieg führt. Mit klaren Ansagen auf dem Platz und taktischen in den Pausen. „Wir sind alle tierisch ehrgeizig“, sagt er noch und fasst damit die Stimmung auf dem Hof zusammen. Nicht wenige tragen die Trikots mit dem Namen ihrer JVA mit Respekt.

Zu gewinnen gibt es Pokale und Urkunden. Zigaretten oder Hasch wären vielen der siegreichen Jugendlichen der JVA Neumünster womöglich lieber, durch die vergitterten Fenster am Spielfeldrand wird um ersteres fleißig gewettet.

Dennoch ist das Turnier auch gut für die Moral. „Alter, wenn du hier gewinnst“, sagt Nico, einer der Lübecker Torwarte, „dann läufst du so durch die Anstalt“, und dabei hebt er seine Nase.