Berliner Szenen: Im Supermarkt
Die Erinnerungshilfe
Geht man über längere Zeit in den gleichen Supermarkt, kennt man einige Menschen vom Sehen. So wie den alten Mann im Netto-Supermarkt in der Frankfurter Allee. Der Mann ist so klein, dass er sich auf die Zehenspitzen stellen muss, wenn er ein Produkt aus dem Regal nehmen will. Und so kurzsichtig, dass er sich alles ganz nah vor die Augen hält, um zu erkennen, was er da erwischt hat.
Als ich ihn das letzte Mal sah, beobachtete ich ihn eine Weile, bis er schließlich ein Glas löslichen Kaffee zur Kasse trug. Auf dem Weg dorthin nahm er immer mal wieder etwas aus einem Regal, hielt es sich vor die kurzsichtigen Augen und legte es einige Meter weiter in einem anderen Regal ab. So kam es, dass sich eine Keksrolle bei den Gurken wiederfand und eine Tafel Schokolade bei den Getränken.
Ich reihte mich mit meinen Einkäufen in die kurze Schlange vor der Kasse ein und ließ meinen Blick weiter schweifen.
Neben mir war ein Regal mit Süßigkeiten. Darin stand ein blauer Schokoladenosterhase, dem jemand den Kopf abgebrochen hatte. Traurig ragte der süße Torso aus dem Papier heraus. Neben dem lädierten Osterhasen lag eine Fischkonserve, die jemand dort abgelegt hatte.
Dann erblickte ich gleich neben den Kinder-Überraschungseiern einen Zettel, der meine Aufmerksamkeit erregte. Mit blauem Kugelschreiber und mit Großbuchstaben, deren Form auf ein älteres Semester schließen ließ, waren fein säuberlich vier Dinge aufgeschrieben: Bier, Tabak, Eis, Capri-Sonne. Zu jedem Produkt war eine Geschmacksrichtung oder Marke aufgeschrieben, nicht immer orthografisch korrekt. „Eis Pistatien oder Kirsch“, „Tabak blau Kingsgard“, „Kirsch oder Tutti Frutti“.
Nur bei dem Nahrungs- und Genussmittel Bier stand keine konkrete Angabe. Das Wort „reichlich“ diente als Erinnerungshilfe. Barbara Bollwahn
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