Vereinigungsgedanken (Teil 5)
: „Der Glaube an die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl versprach, war ziemlich naiv“

Andreas Otto, 43, Chef der Grünen-Fraktion in der BVV Pankow, saß 1990 für die Grünen in der Stadtbezirksversammlung Prenzlauer Berg

Vor 15 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt – so der offizielle Sprachterminus. Viele jubelten, einige trauerten und manche ängstigte, was aus diesem Land werden könnte. Die taz lässt rund um den 3. Oktober Menschen zu Wort kommen, die damals in Berlin waren und die Atmosphäre in der Stadt beschreiben.

„Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich in der Umbruchzeit vom dritten Weg geträumt habe. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Dafür ging alles zu schnell.

Die Enttäuschung über den geringen Einfluss der DDR-Bürgerbewegung zeichnete sich schon bei der Volkskammerwahl am 18. März ab, aus der die großen Parteien gestärkt hervorgingen und wir kleinen abgewatscht wurden. Die Leute wollten einfach keine Experimente.

Hier im alternativen Milieu von Prenzlauer Berg, wo ich seit 1985 lebe, lief’s bei der Kommunalwahl im Mai 1990 dann zwar ganz gut – wir stellten den Jugend- und den Baustadtrat, ich kam in die Stadtbezirksversammlung, die bald zum Beispiel mit der Planung des Mauerparks begann. Doch diese Erfolge im Kleinen beeinflussten die politische Großwetterlage kaum. So interessierte sich im allgemeinen Wiedervereinigungstaumel bald niemand mehr für den Verfassungsentwurf des Runden Tischs für eine erneuerte DDR.

Für mich persönlich war das Ende der DDR aufregender als die Wiedervereinigung. Die Maueröffnung habe ich im Wedding gefeiert – mit einem Freund, den ich nie wieder zu sehen glaubte, weil er ein paar Monate vorher ausgereist war. Bevor wir feiern konnten, musste ich ihn allerdings erst wecken. Das kann man sich gar nicht vorstellen: Der hat das Ende der Berliner Mauer verschlafen!

Von 1989 ist wohl auch deswegen so viel mehr geblieben als von 1990, weil da noch alles möglich war oder wenigstens zu sein schien. Bis ich dann erkennen musste, dass man mit den Leuten in der DDR den dritten Weg nicht gehen konnte und es nicht gelingen würde, die Revolution in Richtung mehr Selbstbestimmung der Menschen im Osten zu drehen.

Vom 3. Oktober 1990 weiß ich nur noch, dass irgendwelche Leute auf dem Kollwitzplatz eine Unabhängige Republik ausgerufen haben. Kann man kaum glauben, dass dort, wo heute schick sanierte Altbauten stehen, mal solche Anarchoaktionen stattgefunden haben. Neulich habe ich mal eines der wenigen unsanierten Häuser in meiner Straße fotografiert, weil man das ja wohl bald niemandem mehr erklären kann, wie es hier mal aussah – und roch.

Meine Tochter wurde im Februar 1990 geboren, also zwischen den Welten. Die kann sich das schon gar nicht mehr vorstellen, wie das hier war, mit und an der Mauer zu leben. Und selbst mir erscheint die Zeit sehr weit weg, als es in der ganzen Kollwitzstraße nur eine einzige Kneipe gab und es überall nach Braunkohleheizung stank. Aus den Kohlenplätzen sind Spielplätze geworden, die Straßen sind viel grüner, und meine Stammkneipe ist direkt gegenüber unserer Wohnung. Das Einzige, was mir am neuen Prenzlauer Berg manchmal auf den Docht geht, ist der viele Verkehr durch die Touristen.

Ich schätze die Freiheit, in der ich durch die Revolution leben kann. Sie hat meinem Leben eine andere, positive Wendung gegeben. Manchmal frage ich mich: Was wäre die Alternative gewesen? Wäre ich irgendwann auch nach Westen gegangen? Vielleicht, wenn die Kinder in die Schule gekommen und der ganze politische Druck losgegangen wäre? Vielleicht wär ich auch noch Ingenieur im VEB Messelektronik?

Man redet im Moment viel über die Mankos des Kapitalismus, die Massenarbeitslosigkeit zum Beispiel. Andererseits muss man auch sagen, dass es zwar besser, aber auch noch schlechter hätte laufen können. Der Glaube an die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl versprach, war auf jeden Fall ziemlich naiv. Wie der Kapitalismus funktioniert, haben schließlich auch die meisten Ostler gewusst.

PROTOKOLL: DAVID DENK