Wirbelstürme der Erhabenheit

New Frontiers: Die US-Kultur hat Katastrophen stets als Herausforderungen begriffen. Gerade erweisen sich auch „Katrina“ und „Rita“ als ziemlich produktive Diskursgeneratoren

Katastrophen sind Momente größter Produktivität,in denen das Leben von vorn beginnen kann

Selten war es so spannend in den USA zu leben, wie in den vier Wochen, seitdem „Katrina“ Fischerboote wie Spielzeug aus dem Golf von Mexiko herausbließ und sich der Lake Pontchartrain in die Straßen von New Orleans ergoss. Die Katastrophe hat sich als produktiver Diskursgenerator erwiesen – schon lange wurde nicht mehr derart erhitzt und differenziert über die Identität des Landes und seinen zukünftigen Weg gestritten.

Auf der Tagesordnung der allgemeinen Debatten stehen nun Themen wie Rasse und Armut und was sie über den Zustand des Projektes Amerika aussagt. Die Bush-Regierung selbst hat die Fähigkeit, New Orleans nicht nur wieder aufzubauen, sondern es beim Wiederaufbau besser zu machen, zum Test der wahren Größe der Nation erhoben. Ebenfalls hörbar wird langsam ein lautes Nachdenken über die Risiken des American Way of Life, der den Golf von Mexiko in eine warme, Unheil gebärende Brühe verwandelte und dessen Fragilität und Abhängigkeit in der plötzlichen Benzinverknappung während der Katastrophe spürbar wurde.

Dass eine Katastrophe den öffentlichen Raum aufreißt und den Blick auf das Grundsätzliche lenkt, kann kaum überraschen. Den USA ist solche Katastrophen-getriebene kulturelle Produktivität besonders vertraut – das Desaster als Motor der nationalen Selbstfindung hat hier eine lange Tradition.

Im Jahr 1976 provozierte der Kulturwissenschaftler Harold Bloom mit seinem Aufsatz „The American Sublime“ eine bis heute andauernde Debatte darüber, wie zentral die Katastrophe für die amerikanische Kultur ist. Bloom berief sich dabei auf die beiden Nationaldichter Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman, für die die katastrophische Erfahrung des Erhabenen das vielleicht zentrale Motiv war.

Die Erhabenheitserfahrung bei Whitman und Emerson war für Bloom eine spezifisch amerikanische, eine, die laut Bloom drastischer, tragischer und direkter ist als etwa die, die in den europäischen Auffassungen des Erhabenen bei Edmund Burke oder Immanuel Kant formuliert wurde. Sie entsteht aus der Begegnung mit einer von jeglicher kulturellen Überformung unberührten Natur an der frontier, einer Natur, die noch von niemandem gesehen, vermessen, beschrieben und besungen wurde und die deshalb zum Entwurf einer gänzlich neuen Sprache herausforderte. Amerika war für Emerson und Whitman eine Katastrophe – der Zusammenbruch aller Sinnsysteme, aller Kultur, zugleich jedoch die Herausforderung zu einem mutigen, radikalen und besseren Neubeginn.

Der Geologe Clarence King formulierte in den 1860er-Jahren am radikalsten dieses Paradigma des „American Sublime“. Zusammen mit dem Fotografen Timothy O’Sullivan erforschte und vermaß er im Regierungsauftrag die Hochwüste des Südwestens in Arizona, Utah und Nevada. Aus seinen Beobachtungen entwickelte er seine geologische Theorie des Katastrophismus, ihr zufolge ist die Landschaft des Westens aus einer Abfolge an infernalischen Naturumwälzungen entstanden. Die Konsequenz aus dieser Beobachtung war für King zum einen die bedingungslose Einsicht in die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber dem Menschen. Zum anderen sah er in diesen Katastrophen Momente größter Produktivität, in denen sich das Leben neu formiert und von vorne beginnt.

Für King war der Katastrophismus eine Metapher für Amerika sowie eine Allegorie darauf, was es bedeutet, Amerikaner zu sein: Nämlich immer wieder nach der Tabula rasa gänzlich Neues und vor allem sich selbst neu zu erschaffen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gerann dieser Entwurf zu einer nationalen Ideologie. „Die Amerikanisierung der Rhetorik des Erhabenen“, schrieb 1991 der Literaturwissenschaftler Rob Wilson, „bedeutete die Internalisierung nationaler Ansprüche als unveräußerlicher Grund des amerikanischen Selbst.“ Der Frontiersman, der Zivilisation und Kultur einer übermächtigen, grausamen Natur abringt, war fortan der Archetyp des Amerikaners. Dabei verlässt er sich notgedrungen, wie die Dichter Emerson und Whitman bei ihrer Arbeit, tapfer auf sich selbst: In der ungnädigen Wildnis des Westens wie in der Wildnis der amerikanischen Dichtung geht dem amerikanischen Individuum niemand zur Hand. Es muss sich selbst seinen Weg bahnen.

Entsprechend hilflos war der Historiker Frederic Jackson Turner im Jahr 1893, als er feststellen musste, dass das offene Land im Westen zur Neige gegangen war und somit das Schauspiel der amerikanischen Selbsterschaffung in Auseinandersetzung mit der unberührten Natur keine Bühne mehr hatte.

Die Orkane am Golf von Mexiko haben nun jedoch wieder eine frontier aufgemacht – eine Frontlinie zwischen der geordneten Zivilisation und einer indifferenten übermächtigen Natur. Die amerikanische Kultur hat diese Konfrontation stets als Bewährungsprobe für das auf sich selbst vertrauende Individuum begriffen, in einer noch nie da gewesenen Situation Kraft seiner eigenen Originalität etwas Neues zu schaffen. Mehr noch, solcher Neubeginn aus dem scheinbaren Nichts, aus dem Horror der Erhabenheitserfahrung, ist für den Amerikaner so etwas wie ein authentischer Daseinszustand, ein wesentlicher Bestandteil dessen, was es bedeutet, Amerikaner zu sein. In New Orleans hat Amerika nun die Chance zu beweisen, dass es diese ursprüngliche kulturelle Vitalität, diese Kraft zur Selbsterneuerung noch immer in sich trägt. SEBASTIAN MOLL