Anti-Club-Petitionen, eingebildete Hippie-Biotope, Widerstand gegen Wohlfühlkieze. Darauf einen AvocadoSalat!: Wann war eigentlich dieses Früher?
Lügenleser Juri Sternburg
Der Zettel liegt sorgsam zusammengefaltet auf der Fußmatte. Offenbar wollte man mich nicht belästigen, indem man ihn durch den Briefkastenschlitz in der Tür wirft. Ich hoffe insgeheim auf eine geheime Liebesbotschaft oder wenigstens eine überraschende Paketbenachrichtigung. Pustekuchen. Die Nachbarn machen mobil. „Dieses Schreiben richtet sich an alle Bewohner. Es muss sich dringend etwas an der unzumutbaren Situation, verschuldet durch die Unmengen an Clubs ändern. Falls Sie auch unter der lauten Musik, Brummton, tieffrequentierten Schall und den Lärm durch die Partygänger leiden, melden sie sich unter (Mailadresse entfernt).
Gesagt, getan. „Liebe Öko-Wutbürger. Ich habe eine Lösung für ihr Problem: Ziehen sie nach Kleinmachnow. Liebe Grüße, ein Anwohner“. Das ist natürlich pubertärer Habitus, aber nachdem mich letzte Woche eine andere Nachbarin gefragt hatte, ob ich eine Petition gegen Dealer unterschreiben würde, war das nun der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Petitionen sind generell eine sehr merkwürdige Art der Meinungsäußerung: Warum kann man denn nicht einfach rausgehen und irgendwas kaputt machen, um sein Anliegen zu erläutern? So wie früher. Einfach mal klingeln ist anscheinend auch out. Erst wird per E-Mail-Verteiler sondiert, wer dabei ist, sonst wird man nachher noch mit Kritik konfrontiert.
Es gibt genau zwei Clubs in unserer Straße. Die Touris, die durchaus nerven können, spülen Unmengen an Geld in die türkischen Spätis und Dönerbuden und sorgen dafür, dass deren Familien sich weiterhin eine Wohnung in 36 leisten können. Die Dealer stehen höflich im Hauseingang und grüßen inzwischen nett, sie sind Teil der Verteidigungsstrategie Kreuzbergs. So lange es Dealer gibt, wollen die Menschen die vor 15 Jahren Prenzlauer Berg zerstört haben, hier nicht wohnen.
„Gegen Wohlfühlkieze“, brüllt der paradoxe, kinderlose Jugendliche in mir, während ich mir einen frisch gepressten Gemüsesaft und einen Avocadosalat beim Spanier um die Ecke hole. Die Antwort der Nachbarn lässt nicht lange auf sich warten. „Falls du zwischen 13 und 19 Jahre alt bist, danke für den Tipp. Ich wohne seit 20 Jahren hier in Kreuzberg. Früher haben hier alternative Menschen und Familien gewohnt.“ Jetzt sind wir beide auf dem gleichen Niveau angekommen. Früher war alles besser.
Nur wann war dieses Früher? In den 80ern, als wir ein Außenklo hatten? In den wunderbaren 50ern, als Langhaarige noch öffentlich beschimpft wurden? 20 Jahre vorher? Im Mittelalter? Und wieso ist Veränderung so negativ behaftet? Warum will ich nicht, dass es leise wird in meinem Kiez – und die Nachbarin will ihr eingebildetes Hippie-Biotop behalten, das es so nie gab? Fragen über Fragen.
Ich werde milde. „Vorschlag zur Güte: Die Clubs und die Musik bleiben, man zieht ja schließlich nicht umsonst in die Innenstadt von Berlin. Aber wir treffen uns alle einmal im Monat und reden drüber, ohne das was passiert. So wie früher, in den alternativen Kreisen, als alles gut war.“ Seitdem grüßt mich niemand mehr im Hausflur.
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