Existentielle Stoßseufzer

WINTERREISE In der Schwankhalle feiert „Schuberts Winterreise“ in einer ungewöhnlichen Inszenierung Premiere. Der berühmte Liederzyklus wird darin kräftig verfremdet

VON ANDREAS SCHNELL

Schon das erste Bild irritiert mit Lust: Über die Tastatur eines Flügels sehen wir einen Menschen gebeugt, mit blondem Wallehaar, im langen Kleid, hinten tief ausgeschnitten. Was sich dann ans Publikum wendet, ist allerdings keineswegs eine Dame, sondern ein stoppelbärtiger Carsten Sauer, der schalkhaft einen guten Abend wünscht.

Dann passiert erst einmal nichts, dann ein Schluchzen, verzweifeltes Weinen, das offenbar von dem Mann im Gorilla-Kostüm stammt, der die Bühne betritt, ein T-Shirt tragend, auf der Brustmit der Aufschrift „Aufgeben ist immer zu früh“, das mehrere blutgesäumte Risse oder Einschnitte aufweist. „Ich träumte von bunten Blumen, so wie sie wohl blühen im Mai“, singt Denis Fischer, der Mann im Gorilla-Kostüm. Aber dieser Frühling, das ist klar, er ist weit weg. Eine Frau im eleganten blauen Kostüm, Kristina Brons, nähert sich. In kunstvollen Halbsätzen erzählt sie vom Losgehen, immer wieder versiegt der Fluss ihrer Rede. „Man hat dann, ja. Das ist das Zentrum von.“ Und immer mal wieder ein „Hoh“ oder vielleicht eher „Hoah“ oder „Oah“, ein Stöhnen, ein Seufzen, das sich leitmotivisch durch den Abend zieht. Zum Beispiel, wenn der Frau im blauen Kostüm der Toast verbrennt. Die große Verzweiflung über die kleinen Katastrophen, hinter denen die großen schimmern. Aber auch eine ganz existenzielle Überforderung, ein auch politisches Scheitern an der Welt. Dieses Scheitern, die Unvereinbarkeit von Banalem und dem großen Gefühl, spiegelt sich in den Bearbeitungen der Schubert-Lieder, die hier nur ganz selten in ihrer ursprünglichen Form daherkommen. Da gibt es zum Beispiel eine Videoeinspielung der drei Akteure, die durch eine Dünenlandschaft tollen, darunter ein Liedtext, kein Gesang. Eine anderes Lied erinnert an 80er-Jahre-Pomp-Rock à la Europe, in Kunstnebel getaucht und von Dieter-Thomas Heck abmoderiert – was dann eine jener hübschen Einlagen ist, in denen Denis Fischer sich von seiner besten Seite zeigt. Auch das Ende ist einer der gelungenen Momente dieses Abends. Während Fischer und Brons die Bühne schon verlassen haben, sitzt Sauer noch am Klavier und spielt in sich versunken, ignoriert seine Kollegen, als die schon in Straßenklamotten gehen wollen. Bis der Bühnentechniker ihn behutsam vom Flügel führt, hinaus aus dem Saal.

Es gibt noch einige schöne kleine Ideen mehr. So etwas wie eine auch inhaltliche Stringenz erschließt sich aber nicht notwendig. Und auch formal wirkt diese Winterreise in der Regie von Anja Wedig etwas zusammengewürfelt. Was konzeptionell auf eine Weise natürlich schlüssig ist, geht es doch schließlich um das Auseinanderklaffen zwischen Ideal und Wirklichkeit, Inkompatibilität von Sehnsucht und Realität. Allerdings ergibt das noch nicht gleich ein auch ästhetisch schlüssiges Ganzes, der Charakter des Experiments tritt deutlich zutage und auch dessen Möglichkeit zu scheitern.

■ heute (Samstag), 19.30 Uhr, weitere Vorstellungen nächste Woche Freitag bis Sonntag, jeweils 19.30 Uhr, Schwankhalle