Ein Sozialgesetz, an das sich niemand hält

Bei einer Gruppenberatung im Arbeitslosenzentrum wird schnell klar: Das Fördern und Fordern unter Hartz IV läuft nicht nach Recht und Gesetz

„Was nützt das Gesetz, wenn sich die ARGE nicht daran hält?“

AUS KÖLN SUSANNE GANNOTT

Die Frühstückskarte klingt verlockend: Kaffee und Tee für 50 Cent, „Frühstück A“ mit Brötchen, Butter, Marmelade kostet 75 Cent, „Frühstück B“ (Wurst oder Käse) einen Euro. Doch wegen der günstigen Preise ist heute niemand ins Café des Kölner Arbeitslosenzentrums (KALZ) gekommen. Die 15 Hartz-Betroffenen, die dicht gedrängt um die Tische sitzen, lauschen einem Vortrag über das „Fördern und Fordern“ nach Hartz IV.

Eigentlich, erklären die beiden Berater Bernd Mombauer und Hedel Wenner, wurde mit dem Gesetz ziemlich genau festgelegt, was die Arbeitsgemeinschaften (ARGE) tun müssen, um einen Arbeitslosen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. „Aber was nützt das Gesetz, wenn sich die ARGE nicht daran hält?“ Wenners rhetorische Frage erzeugt Ratlosigkeit bei den Anwesenden.

Tatsächlich klingt es kurios: Obwohl die KALZ-Berater grundsätzlich gegen der Hartz-Reformen sind, müssen sie gegenüber den Behörden inzwischen auf die Einhaltung des Gesetzes pochen. Denn so widersinnig man Hartz findet: Noch viel schlimmer ist laut Mombauer, dass das Gesetz häufig umgangen wird und den Betroffenen so auch noch ihre mageren gesetzlichen Rechte vorenthalten werden.

Hedel Wenner klopft auf das Flip Chart neben ihr. Dort steht, wie es laufen müsste: Erst wird ein umfassendes „Profiling“ der beruflichen Qualifikationen und Erfahrungen gemacht, dann folgt ein „Gesprächsprozess“ zwischen Ratsuchendem und Fallmanager, an dessen Ende eine individuelle „Eingliederungsvereinbarung“ steht, die beide unterschreiben. „In der Vereinbarung steht drin, was Sie tun müssen und was die ARGE für Sie tun muss“, betont die zierliche Frau mit strenger Stimme.

Ein Mann meldet sich: „Was ist ein Fallmanager?“ – „Ihr Arbeitsberater oder Sachbearbeiter bei der ARGE“, erklärt Mombauer. „In Köln heißt der im inoffiziellen Behördensprech übrigens ‚Pap‘: Persönlicher Ansprechpartner.“ Eine kurze Umfrage unter den Anwesenden zeigt, dass kaum einer seinen Pap je zu Gesicht bekommen hat. Dafür haben viele einen Brief von einem so genannten Beschäftigungsträger bekommen, in dem Sie zum Gespräch „gebeten“ wurden – mit dem dezenten Hinweis, dass bei einem Nicht-Erscheinen der Regelsatz gekürzt werde.

Wenner nickt. Solche Briefe bekommt sie in ihren Beratungsgesprächen immer häufiger zu Gesicht. Wenn die Betroffenen dann zum genannten Termin erscheinen, erzählt sie, werde ihnen oft mit derselben unverhohlenen Drohung ein „Vertrag“ vorgelegt, der sofort zu unterschreiben sei – und in dem man sich etwa einverstanden erklärt, einen Ein-Euro-Job anzutreten.

„Genau wie bei mir“, entfährt es einem jungen Mann. Der 25-jährige, der seinen Namen lieber verschweigen will, ist gelernter Zimmermann und seit Februar Ein-Euro-Jobber bei einer Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung. Die hat ihn in einer Gruppenberatung „zur Unterschrift gezwungen“, erzählt er. Seitdem repariert er in der Schreinerei der Gesellschaft Spielplatzgeräte. Wenn nichts zu tun ist, muss er die Halle staubsaugen. Acht bis zehn Stunden schuften, kein Überstundengeld, kein bezahlter Urlaub, „teilweise werden wir wie Sklaven angemacht“. Eine vorgeschriebene Fortbildung entpuppte sich dann als Bewerbungstraining: „Das hatte ich vorher schon mehrmals beim Arbeitsamt.“

Solche Fälle häufen sich, erzählen die KALZ-Berater. Die überlasteten ARGEs beauftragten Träger damit, sich um die ALG-II-Empfänger zu „kümmern“. Deren Förderangebote beschränkten sich meist auf Ein-Euro-Jobs, in die auch solche Arbeitslosen gedrängt würden, bei denen das eigentlich gar keinen Sinn macht – weil sie viel zu qualifiziert sind. Dabei könne man eigentlich niemanden zwingen, so einen „Vertrag“ mit dem Träger zu unterschreiben, wenn es vorher kein Gespräch mit dem Fallmanager gab und deshalb auch keine Eingliederungsvereinbarung. Auch eine „Einladung“ zum Gespräch, die keine Rechtsfolgenbelehrung enthält, „können Sie, wenn Sie wollen, in den Papierkorb werfen“, so Wenner. Nur wüssten das die meisten Betroffenen nicht – und hätten natürlich Angst vor der angedrohten Geldkürzung.

Die KALZ-Berater halten dieses Vorgehen für eine gezielte Strategie der Behörden. Wenner: „Eine Eingliederungsvereinbarung kann Ihnen zwar auch von der ARGE aufs Auge gedrückt werden. Aber das ist dann ein Verwaltungsakt und für den gilt ein klarer Rechtsweg.“ Die damit verbundenen Rechte des Betroffenen, vor allem die festgelegten Klagemöglichkeiten, würden jedoch bei einem „privatrechtlichen“ Vertrag mit einem Träger umgangen. „Die ARGE stiehlt sich so aus ihrer Verantwortung“, sagt Mombauer und seine Kollegin ergänzt: „Das ist übrigens ein bundesweites Phänomen.“

Aber was tun, wenn man schon den „Vertrag“ mit einem Träger unterschrieben hat und nun unglücklich in einem sinnlosen Ein-Euro-Job hängt? Wenner appelliert an den Kampfgeist der Anwesenden: „Wehren Sie sich, zeigen Sie Courage!“ Betroffene sollten Briefe schreiben an die Beschwerdestelle der Arbeitsgemeinschaft ARGE oder auch direkt an den Petitionsausschuss des Landtags. Auch die Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter würden sich dafür interessieren, wenn – wie im Fall des jungen Zimmermanns – Ein-Euro-Jobber für Arbeiten missbraucht würden, die auch ein normaler Handwerksbetrieb machen könnte.

Auf jeden Fall aber lohne eine saftige Beschwerde beim persönlichen Fallmanager – inklusive Wink mit dem Zaunpfahl, dass der „Vertrag“ unter Zwang zustande gekommen sei und der Träger sich nicht an die gesetzlichen Bestimmungen halte. „Bislang sind so noch alle aus ihrem Vertrag rausgekommen“, sagt Wenner. Kollege Mombauer rattert zum Schluss noch einmal die Telefonnummer der Beschwerdestelle der Kölner ARGE runter. „Wenn Sie nicht wissen, wer Ihr Fallmanager ist, rufen Sie an und sagen: ‚Ich will zu meinem Pap!‘“