Die erste Demo ihres Lebens

Eine Neuköllner Grundschule verteilt vor dem Rathaus Postkarten; ein Mutter-Kind-Projekt stellt seine Einrichtung auf die Straße. Zwei Beispiele für den Protest von rund 100 Projekten gegen Kürzungen bei der Kinder- und Jugendhilfe

Trillerpfeifen tönen laut über den Hermannplatz. Einige Passanten und die Verkäufer an den Ständen schauen sich verwundert um. Zwanzig Kinder mit blauen Luftballons laufen in Richtung Karstadt, vorneweg eine Erzieherin mit einem Banner. Darauf steht: „Wir fordern echte Chancen für Kinder und Jugendliche! Keine weiteren Kürzungen der Kinder- und Jugendhilfe!“ Von der Karlsgarten-Grundschule nahe der Hasenheide sind sie gekommen, um vor dem Warenhaus zu protestieren. Es ist eine von über 100 Protestaktionen im Rahmen des gestrigen Aktionstages der Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege (Liga).

„Persönlich sind wir von den Kürzungen nicht betroffen“, erklärt Sabine Kleinert, die Sozialpädagogin der Schulstation „Glühwürmchen“, die zur Grundschule gehört. „Aber wir wollen unsere Solidarität zeigen.“ Die Fünft-und Sechstklässler haben sich freiwillig zu der wohl ersten Demonstration ihres Lebens gemeldet. Mit Materialien der Liga wurden sie darauf vorbereitet. „Die sparen hier an der falschen Ecke“, erklärt der elfjährige Mark und drückt einem Passanten eine Postkarte in die Hand. Darauf soll er seine Meinungen zu den Kürzungen schreiben und sie dann an Politiker schicken. An wen, kann man sich aussuchen: Die Adresse fehlt.

Dass Kinder die Postkarten verteilen, hat eine besondere Wirkung auf die Fußgänger: Bereitwillig lassen sie sich die Karten in die Hand drücken. So ziehen die Kinder zum Rathaus Neukölln. „Sozialkürzungen: Na ja, was soll man dagegen machen?“, fragt Anita Dincoglu, als sie sich die Karte durchliest. Abschicken wird sie sie trotzdem. „Vielleicht bringt es was.“ Andere schauen entsetzt und machen einen Bogen um die Krachmacher. Das betrübt die elfjährige Beyza: „Die Menschen sind wenig dafür interessiert!“ Weil sie selbst oft in einen Jugendclub geht, wollte sie an der Demo teilnehmen.

Vor dem Rathaus Neukölln angekommen, wird die Gruppe vom Ordnungsamt verscheucht; sie befände sich in der Bannmeile, sagt ein Mitarbeiter des Ordnungsamts. Sie machen auf der Karl-Marx-Straße davor weiter.

Kurz nach halb eins sind alle 200 Postkarten verteilt, die Schüler werden unruhig. Sabine Kleinert geht mit den Kindern zurück zur Grundschule. „Für uns war es eine wichtige Erfahrung“, sagt sie zum Abschied.

Das Mutter-Kind-Projekt hat vor seinem Haus am Bethaniendamm in Kreuzberg eine Wäscheleine mit Babykleidung aufgehängt. Puppenwagen und Gitterbett stehen auf dem Bürgersteig, Protestbanner hängen an der Hauswand. Es gibt Kaffee, Glückskekse und Infomaterial. „Der Bezirk hat gerade beschlossen, die Kürzungen wahrzumachen“, erklärt Agnes Siemer, eine der fünf Mitarbeiterinnen des Projekts. „Besonders die Krisendienste, die die Teilnahme am Mutter-Kind-Projekt vermitteln, sind bedroht. Und wir bekommen immer weniger Klienten.“

Die wenigen Passanten werden von den Frauen angesprochen. Alle sind gegen die Kürzungen. Doch sie fragen die Mitarbeiter nach dem Nutzen der Aktion. „Man darf sich nicht verstecken“, so Agnes Siemer. Da Kinder alle angehen, müsse man nur genügend Druck machen; dann werde auch etwas getan, glaubt sie. Die Stimmung jedenfalls ist optimistisch, auch wenn der Polizeiwagen immer wieder vorbeifährt und fragt, ob alles in Ordnung sei. Sara Euteneuer