Der Aufschwung bleibt aus

Im September geht die Arbeitslosenquote leicht zurück, vor allem wegen der vielen 1-Euro-Jobber.Die Wirtschaft vermeldet überwiegend schlechte Nachrichten. Dabei gibt es auch positive Signale

von RICHARD ROTHER

Die Aktion hat Symbolcharakter: Auf dem Heinrichplatz in Kreuzberg fand gestern eine Tombola statt, als Hauptgewinn winkte ein Ausbildungsplatz. Damit machten Sozialverbände auf Mittelkürzungen bei der kommunalen Jugendhilfe aufmerksam. Jenseits des von sozialem Gewissen und von Verbandsinteressen geleiteten Protests zeigt sie aber auch: Ein Ausbildungsplatz, der auf einen halbwegs bezahlten Job hoffen lässt, ist für viele Jugendliche utopisch wie ein Lottogewinn. Weil es viel zu wenige gibt.

Eine grundsätzliche Verbesserung der Lage – jeder Fünfte in Berlin ist offiziell arbeitslos – ist jedenfalls nicht in Sicht. Zu gemischt ist das Bild, das die Berliner Wirtschaft zurzeit bietet. Gute und schlechte Nachrichten halten sich – optimistisch interpretiert – die Waage. Und sind Anlass lebhafter und leider vor allem parteipolitisch motivierter Debatten im Abgeordnetenhaus (siehe unten).

Da sind zunächst die Hiobsbotschaften aus der Industrie: Samsung will 750 Beschäftigte auf die Straße setzen, weil die von ihnen produzierten Bildröhren keiner mehr kaufen will – und das Nachfolgeprodukt in einem neuen Werk in Ungarn hergestellt wird. Auch der Zigarettenfabrikant Reemtsma baut Beschäftigung ab – die Leute rauchen weniger, oder selbst gedrehte oder in Polen erstandene Glimmstengel. Für den Konjunkturexperten beim Berliner Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Karl Brenke, sind das „betriebliche Einzelfälle“, insgesamt sei die Lage gemischt.

Denn neben den aktuellen schlechten Nachrichten – etwa Stellenabbau bei Daimler, Siemens oder der mittelständischen Medienbeobachtungsfirma Achterberg – gibt es auch positive Signale: Gillette und Berlin Chemie weiten die Produktion aus, der Chemie-Konzern BASF will sein europäisches Service-Center in Friedrichshain errichten, in Nachbarschaft zu den nicht mehr ganz so neuen Ansiedlungen MTV und Universal.

Im Branchenüberblick gibt es im diesjährigen Herbst wenig Überraschungen: Immerhin bekommt das Verarbeitende Gewerbe mehr Aufträge. Der Tourismus boomt weiter. Die Bau- und Immobilienwirtschaft aber leidet, der Einzelhandel stagniert. Auch die strukturellen Probleme der Berliner Wirtschaft bleiben bestehen: Es wird zu wenig für den – wachsenden – Export produziert, und die Sparpolitik des Senats führt zu weniger öffentlichen Aufträgen.

Auch die Konsumenten halten sich zurück. Sinkende Löhne, die Angst vor Arbeitslosigkeit und weiteren sozialen Einschnitten sowie steigende Energiepreise dämpfen ihre Konsumlaune. Wer um seinen Job fürchtet und für Arzneien und Heizung deutlich mehr ausgeben muss, überlegt sich dreimal, ob er in die Sauna oder die Oper, in Kneipe oder Kaufhaus geht, sich eine CD oder Lektüre kauft. Geplante Anschaffungen oder Renovierungen wurden eh schon verschoben. „Die Leute halten ihre Taschen zu“, sagt Konjunkturforscher Brenke. Dies könne sich ändern, wenn eine neue Bundesregierung Konzepte anbiete, die die Leute überzeugten. Auch dies nicht neu: Die schwache Binnenkonjunktur bremst in Deutschland das Wachstum. Und erst wenn die Wirtschaft bundesweit wächst, wird der eine oder andere Krümel vom Kuchen in Berlin abfallen – und vielleicht neue Jobs bringen.

Im Moment sprechen die Arbeitsmarktzahlen eine deutliche Sprache, allen Befürwortern der Hartz-Reformen zum Trotz. Dass die Arbeitslosenquote leicht sinkt, ist vor allem saisonbedingt und liegt an den massenhaft vergebenen Ich-AG- und 1-Euro-Jobs, Letztere treiben höhnischerweise sogar die Zahl „offener Stellen“ nach oben.

Die Zahl sozialversicherungspflichtiger Stellen jedenfalls nahm in Berlin innerhalb eines Jahres um 32.500 ab, ein Minus von 3,1 Prozent. Und 28.000 1-Euro-Jobber sind aus der Arbeitslosenstatistik geflogen.

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