in der taz vor 16 jahren: die wirtschaftskrise in polen als folge des realsozialismus:
„Shortageflation“ heißt bei den osteuropäischen Ökonomen das Zusammentreffen von Gütermangel und Geldentwertung. Entgegen der landläufigen Auffassung vieler Linker bei uns ist weder das eine noch das andere Folge der ökonomischen Reform, sondern resultiert gerade aus deren Verschleppung. In Polen wie in Ungarn und der ČSSR wurde in den 70er Jahren der schwerindustrielle Sektor gehätschelt, riesige neue Prestigeprojekte wurden zu Lasten des Konsumgütersektors hochgezogen. Rentabilitätsberechnungen wurden nicht angestellt. Ein Betrieb konnte einfach nicht pleite gehen – stets stand der Staat als Retter bereit –, alles wurde über die Notenpresse finanziert. Der Staat war und ist der große Motor der Inflation.
Unter den polnischen und ungarischen Ökonomen ist es ein Gemeinplatz, daß ohne die Konsolidierung des Staatshaushalts nicht daran gedacht werden kann, die Inflation zu bremsen. Am Tempo, in dem das geschehen soll, scheiden sich jetzt in Polen die neoliberalen von den sozialistisch/sozialdemokratischen Geistern. Brachiale Methoden können zu Massenkonkursen führen, wobei zu bedenken ist, daß es gegenwärtig in Polen weder eine Arbeitslosenversicherung noch funktionierende Umschulungsprogramme gibt. Andererseits kann eine zu sanfte Gangart nichts gegen die Inflation ausrichten.
Die Menschen in Polen werden vom Mangel zermürbt. Selbst wenn die EG-Hilfe programmgemäß anläuft, wird es mindestens zwei Jahre dauern, bis gestiegene Ankaufpreise, Kredite und eine verbesserte Infrastruktur zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion führen werden. Eine große Streikwelle würde die Regierung Mazowiecki nicht überstehen – aber zu dieser Regierung gibt es keine Alternative. Die Polen, die entgegen dem „romantischen“ Klischee, das über sie verbreitet wird, in den letzten zehn Jahren so viel Realitätssinn bewiesen haben, wissen das und werden danach handeln – hoffentlich. Christian Semler, 30. 9. 1989
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