Tiefe Enttäuschung statt EU-Euphorie

Vor dem möglichen Beginn der Beitrittsverhandlungen ist die Stimmung in der Türkei schlecht. Die Menschen sind verunsichert und fühlen sich unerwünscht. Vom Wirtschaftsboom haben viele nichts. Dafür punkten Vertreter des nationalistischen Lagers

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Die EU, ja wissen Sie. Man soll sich nicht aufdrängen. Wenn man nicht erwünscht ist, geht man auch nicht hin.“ Der Gemüsehändler schüttelt bedenklich den Kopf. Der erwartete Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der EU am kommenden Montag ist für ihn kein Freudentag. „Das ändert für mich nichts. Auch ohne EU wird schon alles teurer.“

Von der Spannung und der Euphorie der Dezembertage 2004, als in Brüssel die Grundsatzentscheidung über den Beginn von Beitrittsverhandlungen fiel, ist in diesen Tagen auf den Straßen Istanbuls nichts zu spüren. Während Ministerpräsident und Außenminister im Dezember bei ihrer Rückkehr aus Brüssel noch mit einer Konfetti-Parade in Ankara empfangen wurden, herrschen jetzt Ernüchterung und tiefer Skeptizismus bis hin zu offener Ablehnung der EU vor.

Obwohl die türkische Börse boomt und auch die Türkische Lira gegenüber Euro und Dollar an Boden gewinnt, schlägt die türkische Wirtschaft sich mit einem ähnlichen Problem wie die deutsche Ökonomie herum. Die großen Konzerne verdienen glänzend, doch beim Rest der Gesellschaft kommt davon fast nichts an. Selbst nach drei Jahren mit Wachstumsraten zwischen 6 und 10 Prozent entstehen kaum neue Jobs.

Zwar ist durch die Ankündigung, dass die EU mit der Türkei über einen Beitritt verhandeln würde, Geld ins Land gekommen und das Interesse ausländischer Investoren geweckt worden. Doch Osman Bey, der türkische Mustermann, merkt nichts davon. Stattdessen kommen aus Brüssel und etlichen EU-Mitgliedsländern Töne, die der normale Nachrichtenkonsument als Beleidigung empfindet.

Seit dem Nein Frankreichs und der Niederlande zum EU-Verfassungsentwurf gehört es in konservativen Kreisen zum guten Ton, dafür die „türkische Gefahr“ verantwortlich zu machen.

Selbst die EU-begeisterte Elite in den Medien ist tief enttäuscht. Sahin Alpay, Kolumnist in der regierungsnahen Zeitung Zaman, sagt: „Hauptsache, der Prozess geht weiter. Ob die Türkei jemals Mitglied des Clubs wird, ist im Moment nicht so wichtig.“

Angesichts der tiefen Verunsicherung der EU-Befürworter fällt es dem nationalistischen Lager umso leichter, in die Offensive zu gehen. Fast jeden Tag liefert ihnen Brüssel eine neue Vorlage. Vor allem die Zypernfrage brachte Ministerpräsident Erdogan erkennbar in die Defensive.

Mehmet Agar, Chef der rechten, stockkonservativen „Partei des rechten Weges“, findet in den Teehäusern viel Beifall, wenn er der Regierung vorwirft, sie lasse sich von der EU vorführen, die einseitig die Interessen der griechischen Zyprioten durchzusetzen versuche. „Erst kommen sie mit der Anerkennung, dann sollen wir unsere Häfen für die Griechen öffnen und als Nächstens fordern sie den Abzug der türkischen Truppen aus Nordzypern. Und was passiert mit unseren türkisch-zypriotischen Brüdern? Die EU hat alle Versprechungen, die Isolation des Nordens zu beenden, gebrochen.“

Die Regierung hat diesen Argumenten nicht viel entgegenzusetzen. Selbst Außenminister Abdullah Gül platzte kürzlich der Kragen, als immer weiter gehende Forderungen der griechischen Zyprioten und von Österreichs Regierung in Brüssel zirkulierten. „Wenn die EU vor Beginn der Verhandlungen neue Forderungen erhebt, werden wir unseren Antrag auf Mitgliedschaft zurückziehen“, drohte er.

Einem Teil des politischen Establishments in Ankara wäre das recht. Stellvertretend für viele listet der konservative kemalistische Kolumnist Gündüz Aktan kürzlich auf, was der Türkei erspart bleibt, wenn sie auf EU-Beitrittsverhandlungen verzichtet: „Wir sind in der Frage des angeblichen Völkermordes an den Armeniern nicht mehr erpressbar, wir behalten Zypern, können unsere Interessen in der Ägäis durchsetzen und mit den Kurden so umgehen, wie wir es für richtig halten. Und zusätzlich gibt es eine privilegierte Partnerschaft“.

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