Wahre Kunst ist Scheiterhaufenkunst

PROVISORIUM Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann lebt seit 2002 in Friedrichshain. Der 59-Jährige schreibt mit dem klaren Blick der Distanz über seine Heimat. Jetzt erschien sein Erzählband „Dämmerschoppen“

Realistisches und Fantastisches lässt Hürlimann traumähnlich ineinanderfließen

VON ANDREAS RESCH

Lässt sich eigentlich noch von einem Provisorium sprechen, wenn dieses Provisorium schon mehr als sieben Jahre andauert? Vermutlich schon – zumindest, solange man es vor allem als ein die Kreativität förderndes mentales Konstrukt begreift. Im Jahr 2002 ist der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann in jene Friedrichshainer Dachgeschosswohnung gezogen, die er bis heute bewohnt. Den Großteil seiner Bücher hat er damals im Keller eines Freundes zwischengelagert, es sollte ja nur übergangsweise sein.

Doch dann kam alles anders, und Hürlimann hat sein Provisorium immer wieder verlängert. Er hat sich in einem Dazwischen eingerichtet, einem Nichtort zwischen Schweiz und Berlin, an dem das Schreiben für ihn am besten funktioniert.

Am liebsten schreibt Thomas Hürlimann, 1950 in Zug geboren, über die Schweiz – mal liebevoll, mal ironisch, mal bitterböse. Die räumliche Distanz zur Heimat erlaubt es ihm, die Dinge klarer zu sehen. Etwa wenn er während einer Tramfahrt in der M1 Tänzerinnen bei ihren Ballettübungen zusieht und dann nach Zürich kommt, wo eine solche Szene undenkbar wäre.

Thomas Hürlimann ist hungrig, und so verlegen wir unsere Unterhaltung nach einer halben Stunde in ein nahe gelegenes italienisches Restaurant. Während der Kellner mit einem überdimensionierten Pfefferstreuer über unseren Salaten hantiert, erzählt Hürlimann von seiner Anfangszeit in Berlin. „Eine missglückte Liebesgeschichte in Zürich“ habe ihn vor knapp 35 Jahren zum ersten Mal hierherbefördert. Einfach nur fortgewollt habe er damals, und zwar so weit wie möglich.

Es folgten ein nie zu Ende gebrachtes Philosophiestudium – bis heute träumt Thomas Hürlimann nachts ab und zu von seiner versäumten Examensprüfung –, Regieassistenzen, schließlich die Erkenntnis, einfach nur schreiben zu wollen. Durch eine glückliche Fügung begegnete er einem WDR-Redakteur, dem seine Geschichten gefielen und der ihm vorschlug, ihm alle zwei Wochen eine zu schicken und diese dann selbst nachts in einem WDR-Studio einzusprechen.

„Ein unglaubliches Gefühl“ sei das gewesen, wenn man zuvor 14 Jahre lang geschrieben hat, ohne etwas zu publizieren. Doch Thomas Hürlimann sieht in dieser langen Phase der Erfolglosigkeit auch etwas Gutes: „Dadurch habe ich herausgefunden, dass ich das Schreiben auch weiterbetrieben hätte, wenn nichts veröffentlicht worden wäre.“ Nach einer kurzen Pause folgt dann der schöne Satz: „So wie ein Mondsüchtiger mondsüchtig ist, so schreibe ich halt.“

Sein Schreiben ist immer auch ein Schreiben an der eigenen Biografie. Allerdings übernimmt Thomas Hürlimann Erlebnisse nicht 1:1, sondern spitzt sie zu, lässt Realistisches und Fantastisches ineinanderfließen. Er sehe da Parallelen zu Träumen, in denen sich auch real Erlebtes mit Fiktivem vermische.

Bisweilen neigt Thomas Hürlimann in seinen Texten zu schmerzhafter Selbstkritik – etwa in der Erzählung „Lehrjahre eines Unterdozenten“, in der es um seine Zeit als Dozent am Leipziger Literaturinstitut geht: „Wären wir“, heißt es darin, „wovon wir in düsteren Nachmittagsstunden träumen, von der Zeit applaudierte Schreibgrößen, würden wir eine Rolle im Weltleben spielen, müssten uns Mikrofone, Kameras und Gegenwartsproblemen stellen und hätten schlicht nicht die Zeit, eine Schar von unbekannten Zukünftigen mit fernabliegenden Wortfindungen zu füttern.“

Erschienen sind die „Lehrjahre“ in dem Erzählband „Dämmerschoppen“, in dem 18 Hürlimann-Storys aus 28 Jahren versammelt sind: Kunstvolle Miniaturen finden sich darin, absurde Konstellationen, poetische Reflexionen. Und immer wieder Autoren: Goethe etwa, Gottfried Keller oder Thomas Bernhard und Rolf Hochhuth, die in der Erzähling „Das Holztheater“ während einer Zugfahrt ein Konzept für ein Theater der Zukunft entwickeln: „Und wenn es brennt, Ihr Holztheater? Dann brennt’s!, rief Bernhard, und das ist auch gut so, Hochhuth. Wahre Kunst ist Scheiterhaufenkunst.“

Als ich mich schließlich verabschiede, spüre ich den scharfen Blick des Kellners, der mein Aufbrechen verurteilt. In seiner Theatralik könnte er eine Figur aus dem literarischen Universum von Thomas Hürlimann sein. Wer behauptet, dass die Literatur immer das Leben imitieren muss? In Hürlimanns Welt jedenfalls ist die Grenze nach beiden Seiten hin offen.

■ Thomas Hürlimann: „Dämmerschoppen“. Ammann Verlag, Zürich, 2009; 195 Seiten, 13,95 €