Disziplin und Selbst

Berlinale „For Ahkeem“ erforscht die widrigen Lebensumstände einer jungen schwarzen Frau am Rande von St. Louis

Der einzige Weg, eine Strafe zu vermeiden, ist, dass Daje ab sofort die Innovative Concept Academy besucht Foto: Jeremy S. Levine, Landon Van Soest

von Fabian Tietke

Verständlicherweise missmutig pötteln die 17-jährige Daje Shelton und ihre Mutter in aller Frühe per Bus aus dem etwas runtergekommenen Randbezirk, in dem sie wohnen, in die Innenstadt von St. Louis. Daje hat einen Termin beim Jugendrichter. Der einzige Weg, eine Strafe zu vermeiden, ist, dass Daje ab sofort die Innovative Concept Academy besucht – eine Highschool, die auf straffällig gewordene Jugendliche spezialisiert ist.

Mit mäßiger Motivation besucht Daje den Unterricht und lernt nach kurzer Zeit Antonio kennen. Die beiden werden ein Paar, Daje wird schwanger, und mit der nahenden Geburt erhöht sich der Druck auf Daje, den Abschluss rechtzeitig vor der Geburt zu schaffen. Antonio schmeißt die Schule und beteuert, sich einen Job suchen zu wollen. Doch allen Beteuerungen zum Trotz gerät Antonio immer wieder in Schwierigkeiten, was die Suche nach einem Job zunehmend unmöglich macht. Kurz nach der Geburt verfolgt Daje die Fernsehbilder der Ausschreitungen im nahe gelegenen Ferguson, nachdem der weiße Polizist Darren Wilson den 18-jährigen Michael Brown erschossen hat und straffrei geblieben ist.

Jeremy S. Levine und Landon Van Soest konzentrieren sich in ihrem Dokumentarfilm „For Akheem“, der im Forum der Berlinale läuft, ganz auf ihre Protagonistin Daje Shelton. Der Preis für diese Fokussierung ist, dass wir über Dajes Vergangenheit, ihre Mutter, und selbst Antonio nur das erfahren, was von selbst zur Sprache kommt. Berührende Details und abgestandene Phrasen liegen in dem Film nahe beieinander. So mögen die ermutigenden Worte der Schulmitarbeiterinnen realistisch sein, auf die Dauer wirkt das fortwährende „du schaffst das schon“ dennoch etwas ermüdend und in der Appelation an die Selbstdisziplinierung auch etwas arg ideologisch. Es gibt Alltagsbeobachtungen wie das Gespräch über Schussverletzungen bei einem Treffen mit Freundinnen, bei dem die Kamera wie beiläufig an einem Bein herabgleitet und an der elektronischen Fußfessel verharrt, oder Dajes Schreibblock, der mit Namen bedeckt ist, hinter denen jeweils der Zusatz RIP anzeigt, dass es sich um die Namen von Toten handelt.

Angeschossen oder erschossen zu werden ist so sehr Teil von Dajes Lebensrealität am Rande von St. Louis, dass eines der ersten Gespräche mit ihrem neuen Freund sich darum dreht, wer von beiden wohl länger leben wird.

In Raoul Pecks Panorama-Beitrag „I Am Not Your Negro“ wird in einer Einstellung ein Familienfoto aus den 1950er oder 1960er Jahren gezeigt und der Kommentar erläutert, dass keines der abgebildeten schwarzen Geschwisterkinder 40 Jahre alt geworden ist, weil alle vorher eines gewaltsamen Todes gestorben sind. „For Akheem“ zeigt auf erschütternde Weise, dass sich die Lebenserwartung schwarzer Jugendlicher in den Jahrzehnten, die zwischen der Fotografie und dem Film von Jeremy S. Levine und Landon Van Soest liegen, nur wenig verbessert hat.

Berührende Details und abgestandene Phrasen liegen nahe beieinander

Wie groß die Fallstricke eines Films über das Leben eines schwarzen Teenagers sein können, zeigt ein Vergleich mit einem weiteren Film des Forums: Amman Abbasis uninteressant gescheitertem Spielfilm „Dayveon“ über einen schwarzen Jugendlichen, der sich auf der Suche nach Anschluss und einer Form der Rebellion einer Gang anschließt.

Gerinnt in „Dayveon“ nahezu jede Szene beim Versuch, das Gezeigte über das beinahe ethnografisch präzise Beobachtete hinaus mit einer politischen Bedeutung zu beladen, zum Klischee ihrer selbst, so halten Levine und Van Soest „For Akheem“ eben dadurch in der Balance, dass sie sich, vor die Wahl gestellt, immer wieder dafür entscheiden, dass Daje das Zentrum des Films ist und bleibt.

Diese ethische Grundeinstellung ist einer der Gründe, die „For Akheem“ sehenswert machen. Der Film mag weder bahnbrechend innovativ sein noch gegenüber früheren Annäherungen an die Lebenswirklichkeit schwarzer Jugendlicher in den USA grundlegend Neues bringen – das verlässliche Beharren auf Daje als Zentrum der Erzählung, ihr Kampf gegen die widrigen Lebensumstände machen „For Akheem“ zu einem unprätentiösen, sympathischen Film.

„For Ahkeem“. Regie: Jeremy S. Levine, Landon Van Soest. USA 2017. 17. 2., 22.15 Uhr, Cubix 9 (D), Rathausstraße 1