: Vom Risiko, zu lieben
Tanz Überraschend politisch: Der israelische Choreograf Tomer Zirkilevich zeigt im Dock 11 ein Stück über Nähe und Verrat
von Ariane Lemme
Auch das Allerprivateste kann politisch sein. Ist es vielleicht immer. Tomer Zirkilevich hat das erfahren. Irgendwann vor ein paar Jahren fing er an, seine Beziehung zu hinterfragen, diesen sicheren Ort voll Nähe, mehr Partner- als Leidenschaft. Und dann wurden die Kreise immer größer: Familie, Freunde, Bekannte. Die Künstlerkreise in Tel Aviv, in denen er als Choreograf und Tänzer arbeitet, irgendwann auch die Politik. „Alles fühlte sich plötzlich wie ein Käfig an“, sagt er im Café des Dock 11, dem Tanzzentrum in der Kastanienallee.
Dass er jetzt hier sitzt, in Berlin und nicht länger in Tel Aviv, hat mit diesem Gefühl zu tun. Gleichzeitig fühlt er sich ein bisschen wie ein Verräter. Als würde er seine Heimat betrügen, das Land, das er liebt und das ihn liebt, das ihn ausgebildet und zu dem gemacht hat, der er ist. Das kann mit der Sprache zu tun haben: Nach Israel zu kommen, Israeli zu werden, heißt im Hebräischen „lalot“ – aufsteigen. Das Land verlassen, um anderswo zu leben, übersetzt: herabsteigen. Das hat eher nichts mit Nationalstolz, sondern mit Religion zu tun – zum heiligen Land steigt man eben auf.
Von dieser – und von der Untreue auf allen anderen Ebenen handelt Zirkilevichs neues Stück „Infidelity. A Love Story“, das bis zum Sonntag im Dock 11 zu sehen ist. Die sieben Tänzer haben jeder ihre eigene Idee von Verrat mitgebracht. Und Zirkilevich, der aus all dieses privaten Erfahrungen eines seiner erzählenden Tanzstücke gebaut hat, hat sich dabei selbst verändert. „Ich fing an mit der Idee, dass fremdgehen eben bedeutet: eine Beziehung ist kaputt, man gibt damit zu, die andere Person nicht mehr zu lieben“, sagt er. Aber das menschliche Herz ist groß genug, um mehr als einen Menschen zu lieben, findet er heute. „Manchmal kann Untreue eben auch ein Weg sein, den Partner zu behalten, ihn zu schützen.“
Das Gefühl, festzustecken
Mit diesem riesigen Glauben an persönliche Beziehungen arbeitet er auch. „Ich muss mich in gewisser Weise in meine Tänzer verlieben.“ Weil es ihm darum geht, etwas zu erforschen, etwas zu erzählen mit seiner Arbeit, castet er die Tänzer nicht mit den üblichen Auditions. „Mich interessiert, was für eine Geschichte sie mitbringen, welche eigene Idee von dem Stoff, den ich bearbeiten will, und ob wir zusammenpassen.“ An der Technik kann man ohnehin arbeiten. Die Persönlichkeit ändern, das geht eher nicht. Es waren also eher erste Dates, zu denen er die Tänzer lud.
Diese spezielle Intimität, die die Tänzer so verbindet, kann man in der Aufführung förmlich greifen. Sie klammern sich aneinander, drängen, insistieren: „Tell me you never leave me!“ Versprechen: „I’ll be the boy of your dreams“, so lange, so vehement, bis die so erzeugte Enge sie auseinandersprengt.
Dieses Gefühl, festzustecken, das Tomer Zirkilevich das letzte Jahr in Israel gehabt habe, ist natürlich ein Punkt, an den fast jeder in seinem Leben irgendwann kommt. Alles scheint festgefahren, zu eng, sicher, aber blutleer. Da ist kein Platz mehr, um zu wachsen. Dann muss etwas Neues her.
Für den Choreografen war das Berlin, „vielleicht war es etwas Unbewusstes, das mich hierher geführt hat“. Wie bei den meisten, die diesen Punkt erreichen, fing es auch bei ihm im Privaten an. „Aber ich merkte, dass alles mit allem zusammenhängt“, sagt er. Dieser Stress, in einem Land zu leben, das seit seiner Gründung von allen Seiten bedroht wird, den muss man irgendwie kompensieren. „Dieser Druck bringt natürlich auch jede Menge Produktivität mit sich, die Leute wollen mehr, kämpfen, mehr. Aber manchmal blockiert er uns natürlich auch.“ Oder anders gesagt: Wer sich ständig existenziell bedroht fühlt, der sucht Sicherheit. In allen Bereichen. Der wird auch in der Kunst, im Intimen weniger risikofreudig.
Auch ohne politischer Aktivist zu sein, ohne die Dinge schwarz-weiß zu sehen, hat Zirkilevich das Gefühl, dass viele Dinge falsch laufen, zu Hause in Israel. Wenn er davon erzählt, sieht man, dass es ihn quält, diese Diskrepanz zwischen Liebe und Entfremdung. Und vielleicht gleicht dieser Zwiespalt tatsächlich dem, in den alle fallen, die fremdgehen.Aber Zirkilevich will an die Liebe glauben. „Ich denke, es gibt noch immer eine Chance auf Frieden im Nahen Osten.“ Auch in den verschiedenen Sequenzen im Stück, auch in seinen verzweifeltsten Momenten, war es ihm wichtig, das die Liebe eine Chance hat. „Manchmal tut es weh, manchmal ist es grausam.“
Um zu erkennen, dass er – nicht nur, aber vor allem auch künstlerisch – anders aus sich schöpfen kann, musste er Israel vielleicht verlassen. „Dort durchdringt der Gedanke ‚immerhin bin ich in Sicherheit‘ alles, jeden Bereich des Lebens.“ Es brauchte in gewisser Weise den Frieden in Berlin, der ihn risikofreudiger gemacht hat. Im Privaten, aber auch beruflich. Und auch, wenn er inzwischen drei Jahre hier lebt, hat er dieses Gefühl nie wieder verloren: Alles kann sich jederzeit ändern, ich kann jederzeit etwas ändern. Ein anhaltender Aufbruch. Das ist nie ein schlechter Status quo für die Kunst.
Am 11. + 12. Februar im Dock 11, 19 Uhr
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