Frei Schwimmen

Klar, da ist das Kopftuch, das orientalische und abendländische Welt von einander trennt. Aber auch im Schwimmunterricht, den eine iranische Bademeisterin muslimischen Frauen in Bremen erteilt, spielt die Frage nach Stoff eine entscheidende Rolle. Um Grenzen zu ziehen. Und sie aufzuheben

von Friederike Gräff

Sie hat sich immer gefragt: Was wäre, wenn ein Kind vor meinen Augen ins Wasser fiele, wer würde es retten? Aber sie hat nie Schwimmen gelernt, auch nicht, als zwei ihrer Brüder in der Türkei ertranken. Es hat sich nicht ergeben, Ermine Kartal* wurde Mutter und ging mit ihrem Mann nach Deutschland.

Als Großmutter hat sie sich auf den Weg ins Goosebad gemacht. Es ist ein kleiner, altmodischer Klinkerbau, der so versteckt liegt, dass er dem Personalleiter der Bremer Bäder in den Sinn kam, als er sich fragte, in welchem seiner Bäder muslimische Frauen schwimmen könnten. Aber es kamen nur wenige und die blieben nicht lang. „Die deutsche Lehrerin stand immer nur am Beckenrand“, sagen sie, aber sie sagen es erst jetzt, seitdem Shahrzad Hajhossein Tabrizi sie unterrichtet, die sich zu ihnen ins Wasser stellt und sie fest an der Hüfte packt, wenn sie zweifeln, ob es wirklich eine gute Idee ist, den Kopf ins Wasser zu legen.

Atmen ist wichtig

Shahrzad Tabrizi sieht ein bisschen aus wie die italienische Schauspielerin Anna Magnani, es ist die gleiche herbe Schönheit, nur nicht so unnahbar. Eine der Frauen im Wasserbecken wirft ihr eine Kusshand zu und Shahrzad sagt: „Unsere Kultur ist ähnlich. Ich bin auch Muslimin –aber nicht mit Kopftuch und so“. Und dann sagt sie noch: „Es ist egal für mich, ich bin nicht fanatisch, aber ich gehe abends auch nicht in die Bar“.

Shahrzad Tabrizi ist Iranerin, seit drei Jahren lebt sie mit ihrem Mann in Deutschland. Von den 16 Frauen, die heute im Goose-Bad sind, haben fast alle das Schwimmen bei ihr gelernt: die Afghanin, die nach einem Schwimmunfall wochenlang im Koma lag, die Großmütter, die mit ihren Töchtern hierher gekommen sind und die kichernden Teenager.

Die Älteren kommen im Badeanzug und einige haben noch Leggins darunter gezogen, nur die jüngeren haben bunte Bikinis an. Aber alle tragen Schwimmbrillen, ausnahmslos, denn Shahrzad Tabrizi will, dass sie richtig schwimmen, nicht mit starren Hälsen wie die Enten.

„Sie müssen duschen“, sagt sie nachdrücklich zu einer Frau, die einen schwarzen BH unter dem Badeanzug trägt und wendet sich den Teenagern zu. „Augen auf“, sagt sie, setzt sich die Schwimmbrille auf, lässt sie den Kopf flach aufs Wasser legen und führt sie an den Händen durchs Wasser. „Augen auf“, sagt sie, „sehr gut“. Dann packt sie eine ältere Frau an der Hüfte, „Ein- und Ausatmen“, ruft sie, aber die Frau denkt nicht ans Atmen, sie denkt, dass sie untergehen wird, wenn sie nicht schnell genug mit den Armen rudert.

„Langsam“ ruft Shahrzad und hält sie ein bisschen fester. Man kann sie am Beckenrand kaum verstehen, weil die Musik so laut ist, dass die Bässe der türkischen Schlager dröhnen. Die Frauen mögen die türkische Musik lieber, aber manchmal legt Shahrzad trotzdem italienische Schlager auf, solche mit viel Gefühl. „Sie brauchen frohe Musik“, sagt sie über ihre Schwimmerinnen, aber vielleicht denkt sie dabei auch an sich.

„Italien ist eine città für amore“, sagt sie und guckt auf den Schwimmbadboden. Die Fenster im Goosebad liegen ganz oben, knapp unter der Decke und nur durch ein paar kleine Eckfenster kann man in den Garten draußen sehen, wo ein Arbeiter beschäftigt ist. „Sag ihm, dass er gehen soll“, rufen die Frauen und Shahrzad Tabrizi holt Tanja Schmidt, die Leiterin des Goose-Bades. „Er muss doch hier arbeiten, er guckt nicht“, sagt sie, und er hat in der Tat nicht geguckt und ist bald verschwunden.

Aber es geht auch nicht darum, dass er etwas sähe, es geht darum, dass dieses Bad jeden Montag und Donnerstag zwei Stunden lang ein Ort ist, der nach den Vorstellungen der Frauen geordnet ist, und kaum, dass sie ihn verlassen, scheinen sie sich in Gäste zu verwandeln, deren Vorstellungen immer wieder auf Befremden stoßen. „Arbeiten Sie auch mit Männern?“, hat die Koranlehrerin, die den Schwimmunterricht für muslimische Mädchen organisiert, Shahrzad Tabrizi gefragt. „Ich habe Arbeitskleidung an, ich bin nicht nackt“, hat Shahrzad geantwortet und meinte es nicht scherzhaft. Nackt bedeutet für sie nicht, gar nichts anzuhaben, es bedeutet, zu wenig anzuhaben. „Ich denke, man muss mit der Zeit gehen“, sagt Shahrzad. „Nicht mit Kopftuch und nicht nackt“.

Es geht immer um Stoff, denkt man, um das wie viel oder wie wenig. Vielleicht hat das die Frauen schon immer beschäftigt, aber wahrscheinlich haben sie diese Kategorie erst jetzt übernommen, wo die Frage, wie jemand lebt und denkt, mit der nach dem Tragen oder Nicht-Tragen eines Kopftuchs ausreichend beantwortet zu sein scheint.

Auch die deutschen Frauen finden es wichtig, wie viel Stoff man wann trägt. Als Shahrzad Tabrizisi den Badeanzug beim Duschen anbehielt, haben die deutschen Frauen sie skeptisch angesehen – gesagt haben sie nichts. Jetzt zieht sie sich vorher aus. Wenn sie bei den Türkinnen duscht, behält sie den Badeanzug an. „Man muss es akzeptieren“, sagt Shahrzad Tabrizi. Es ist eigentümlich, denkt man, man hat fast vergessen, dass man in diesen Fragen so gleichmütig sein kann. Die Großmutter von Shahrzad Tabrizi war nicht gleichmütig, als ihre Enkelin begann, Sport zu studieren. „Wie kannst Du nur Sport studieren?“, hat sie gesagt. „Du musst Sprachen lernen“.

Was draußen passiert

Sharhzad Tabrizi begann, Italienisch zu studieren, sie hat zwei Jahre in Perugia und Rom gelebt. „Aber ich hatte zu viel Heimweh“, sagt sie, sie sagt es auf Italienisch, „nostalgia“, deshalb sei sie in den Iran zurückgekehrt, bis der Irak-Krieg die Familie zerstreute und sie schließlich mit ihrem Mann nach Deutschland ging. „Gehst du jetzt zur Universität?“, fragt ihre Großmutter, die nun in Amerika lebt, am Telefon. Vermutlich ist es schwierig, am Telefon zu erklären, wie man als iranische Romanistin in Deutschland Arbeit sucht.

Sharhzad Tabrizi ist jetzt Bademeisterin im Uni- und im Goosebad, sie ist es gern und wenn sie frei hat, geht sie an die Universität zum Deutschkurs. Vor dem Treffen hat sie neun Sätze vorbereitet, damit sie nichts Falsches sagt, und vermutlich ist dieser Ernst beim Lernen eine gute Voraussetzung zum Unterrichten. „Meine Mädchen müssen tiefes Wasser kennen lernen“, hat Sharhzad Tabrizi zu den Mitarbeitern der Bremer Bäder gesagt und darauf gedrungen, dass sie wenigstens einmal pro Monat das große Bad in Tenever besuchen können.

Es ist aufwändig, diese Besuche zu organisieren, weil dann die Scheiben mit Gardinen verhängt werden müssen. Aber nur dort können die Frauen vom Ein-Meter-Brett springen, damit sie wissen, wie es sich anfühlt, aus der Tiefe herauf zu kommen. „Es ist wichtig, weil sie verstehen, wie man in Deutschland lebt. Sie lernen, was draußen passiert“, sagt Sharhzad Tabrizi. Aber sie sind doch dort unter sich, denkt man. Was lernen sie kennen? Einen Weg mit dem Bus, den Fahrkarten-Kauf? „Sie haben schlechte Erfahrungen mit deutschen Mitbürgern gemacht, vor allem die älteren“, sagt Tanja Schmidt. „Es wird nicht akzeptiert, das sie mit Kopftuch herumlaufen und das bekommen sie zu spüren“.

Ins Goosebad kommen sie, wie sie möchten, mit Bikini oder in Leggins, und vielleicht sind sie deshalb mit einem Foto einverstanden. „Ohne Badeanzug?“, fragt Ermine Kartal. „Ja“, sagt eine Jüngere. „Nackt, Sex“ und sie fangen an zu kichern.

Ermine Kartal hat das Schwimmen bei Shahrzad schließlich gelernt. Als ihr Mann und die Kinder es nicht glauben wollten, haben die anderen Frauen einen Film gedreht, auf dem sie zu sehen ist mit den kurzen grauen Haaren und dem rosafarbenen Badeanzug, wie sie unaufhaltsam die kurze Bahn des Goosebads entlang schwimmt.

* Name geändert