Das Ausnahme-Werk, das die Regel bestätigt

Die Geschichte der Wiedervereinigung ist eine der Deindustrialisierung. Beim Samsung-Röhrenwerk in Schöneweide gab es wenigstens eine Dekade der Hoffnung. Doch nun will der koreanische Konzern das Traditionswerk schließen. Ein Schicksal, das fast jeder Ostberliner Großbetrieb kennt

VON RICHARD ROTHER

Wolfgang Kippel ist ein viel beschäftigter Mann, noch. Der Betriebsratschef des von der Schließung bedrohten Samsung-Werkes in Oberschöneweide wälzt in seinem schmucklosen Büro Akten und organisiert den Protest. Alle zwei Minuten kommt ein Anruf. „Gysi kommt“, sagt Kippel nach einem Telefonat, und die Augen des 56-Jährigen leuchten kurz auf.

An der Wand in Kibbels Büro hängt eine detaillierte Europakarte, ein Bild mit Symbolwert: Berlin liegt auf dieser Karte zentral. Aber Korea, wo die Entscheidungen bei Samsung fallen, ist nicht zu sehen. Dafür Budapest, ein paar Zentimeter unterhalb Berlins. Dort, in der Nähe der ungarischen Hauptstadt, hat Samsung ein neues Werk gebaut, dort werden die neuen Flachbildschirme produziert, die die alten in Berlin gefertigten Bildröhren ersetzen. Und zum Jahreswechsel, so plant Samsung, macht der letzte Großbetrieb in Schöneweide dicht, das jahrzehntelang den Kern der Ostberliner Industrie bildete. Die Geschichte der Wiedervereinigung ist eine der Deindustrialisierung.

Mehr als 30.000 Menschen arbeiteten zu Wendezeiten in den Großbetrieben in Schöneweide, dessen Bahnhof ein für den Süden der DDR wichtiger Fernbahnhof war. Allein beim Samsung-Vorgänger, dem Werk für Fernsehelektronik, waren 6.000 Menschen beschäftigt. Heute sind es rund 800, davon sollen 750 jetzt ihren Job verlieren. Insgesamt sind nach der Wende in Berlin 200.000 bis 250.000 Arbeitsplätze in der Industrie verloren gegangen, ein Großteil davon im Ostteil der Stadt. Große Betriebe wie Narva an der Warschauer Straße, EAW an der Elsenbrücke in Treptow oder Knorr-Bremse am Ostkreuz – Geschichte und im besten Fall interessante Architektur für Bürogebäude.

Das Werk für Fernsehelektronik produzierte zu DDR-Zeiten Bildröhren, ein Teil ging davon in den Westen – günstig hergestellte Waren, weil die Werktätigen nur DDR-Geld bekamen. Heute ist das ungarische Samsung-Werk für den Konzern günstiger als das deutsche, weil die Budapester Kollegen viel weniger als die Berliner verdienen. Der Mechanismus ist ähnlich wie vor 20 Jahren, nur dass er heute Globalisierung heißt und viel mehr Bereiche erfasst hat.

Die Einführung der D-Mark brachte für das Fernsehwerk riesige Probleme, so wie für jeden Industriebetrieb in der DDR. „Uns sind sofort die russischen Märkte weggebrochen“, sagt Betriebsrat Kibbel, der seit 1973 im Werk ist. Klar, für die Abnehmer im Osten waren die ostdeutschen Produkte zu teuer, und die Märkte im Westen waren entweder abgeschottet oder die Produkte nicht konkurrenzfähig. War die Währungsunion ohne Alternative? Ein für DDR-Bürger schlechterer – für Unternehmen aber besserer – Umtauschkurs hätte zu noch stärkerer Abwanderung in den Westen geführt.

Im Osten schlugen die Abwickler und Marktbereiniger zu. Einen von dieser Sorte habe er durch Intervention der Treuhand noch abwehren können, ist Kibbel von sich überzeugt. Mit Samsung habe man aber Glück gehabt. „Das war eigentlich eine Erfolgsgeschichte.“ Eine Ausnahme, die die Regel bestätigte. Samsung wollte damals auf dem europäischen Markt Fuß fassen – und Ostberlin bot mehrere Vorteile. Es war billig, und qualifiziertes Personal gab es im Überfluss. Vor allem waren die politischen Verhältnisse im Vergleich zu den Ostblockländern sicherer. Und mit Interesse schauten gerade die Koreaner auf die Vereinigung Deutschlands.

Samsung wurde in Ostberlin der rote Teppich ausgebreitet. Die damals 800 übrig gebliebenen Beschäftigten waren zu flexiblen Arbeitszeiten bereit, auch die Löhne lagen noch Jahre unter Westniveau. Und in vergangenen Monaten wurde nochmals auf Lohn verzichtet, zudem gab es massenhaft Kurzarbeit. Nutzen wird alles Entgegenkommen wohl nichts – so billig wie in Ungarn kann man in Berlin nicht sein. „Total cost reduction 30 %!“, steht von innen als Losung über dem Werkstor in Schöneweide.

Die Samsung-Beschäftigten, die täglich daran vorbeigehen, können immerhin aus dem reichen Nachwende-Erfahrungsschatz ostdeutscher Betriebsproteste zurückgreifen. Demonstrationen und Konzerte, Unterschriftensammlungen und Besetzungen, ausschließen sollte man wohl nichts. Wer diesen Kampf in den nächsten Wochen aufnimmt, kann vermutlich zu Weihnachten wenigstens erhobenen Hauptes nach Hause gehen – die Deindustrialisierung Ostberlins hält er wohl nicht auf.