Die nachhaltige Stadt

Innovative Projekte und Kooperationen sind gefragt, um die stagnierende Berliner Stadtentwicklung wieder in Bewegung zu bringen. Die Tagung „experiment city“ will dafür neue Impulse geben

VON MICHAEL LA FOND
UND ELISA BERTUZZO

Die Tagung und Projektbörse „experiment city“ soll zeigen, dass Berlin experimentelle Dimensionen hat. Am Sonntag, den 9. Oktober, werden richtungsweisende und innovative Projekte zu sehen sein, die nach neuen Möglichkeiten und Alternativen suchen. „Frei-räume“ wie Frei-, Brach- und nutzungsarme Gebäude und Flächen stehen im Mittelpunkt der in der Akademie der Künste im Tiergarten gastierenden Veranstaltung.

Im Rahmen der Projektbörse stellen sich Wohn- und Kulturprojekte vor, die in und mit leer stehenden Räumen arbeiten und mit Experimentierfreude die städtische Entwicklung „von unten“ realisieren. Selbst verwaltete Wohnprojekte und generationsübergreifende Wohngruppen erproben Ansätze, die herkömmliche gesellschaftliche Modelle ergänzen – oder sogar erübrigen.

Während sie vor dem Hintergrund einer finanziellen Knappheit das urbane Wohnen, Arbeiten und Leben neu definieren und dafür angemessene Lösungen suchen, wirken sie gleichzeitig auch auf kultureller Ebene. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit alltäglichen und ästhetischen Fragen, von der Versorgung mit Waren bis zum Nutzen der Infrastruktur, von der Müllentsorgung bis hin zur Wohnqualität, regt zum bewussten Erleben und Umgestalten kulturell geprägter Werte an. Es geht um die Frage, wie jeder Lebensqualität begreift.

Es ist unseres Erachtens eine Tatsache, dass die Frage nach der Rolle von Kultur für die Erneuerung sozialer Strukturen und veralteter Modelle in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird. Durch kulturelle und kommunikative Ansätze werden Grundeinstellungen in Frage gestellt und neue Weltanschauungen angeboten, wovon die Politik in ihrer Praxis lernen und profitieren kann. Innovative Kooperationen sind gefragt, um unsere sonst stagnierende Stadtentwicklung wieder in Bewegung zu bringen.

Dies ist besonders wichtig angesichts des Prinzips der Nachhaltigkeit, eines Wortes, das sich trotz breiter Resonanz in der formalen sozialpolitischen Praxis nur schwer in der Öffentlichkeit durchsetzt. Es ist inzwischen deutlich geworden, dass der Erfolg des Leitbildes Nachhaltigkeit nur über seine kulturelle Integration in der Gesellschaft möglich ist. Auch deswegen ist „experiment city“ als Leitprojekt für die Umsetzung der Agenda 21 in Berlin anerkannt.

Programme und Forschungsaufträge auf Bundes- und Berliner Ebene zeigen den Willen der Politik, Nachhaltigkeit auch in Fragen der Stadtentwicklung zu verfolgen und dazu kulturelle Ansätze anzuwenden, die die Öffentlichkeit ansprechen sollen. Trotzdem lässt sich über manche Methoden diskutieren, zum Beispiel über das Stadtentwicklungsthema „Zwischennutzung versus Nachnutzung“.

Das temporäre Nutzen von leer stehenden Räumen, das Monate oder mehrere Jahre dauern kann, wird zurzeit stark gefördert. Solche Zwischennutzungen können einerseits als eine Art „trojanisches Pferd“ gegen das allgemeine Misstrauen der Eigentümer gegenüber Umnutzungen angesehen werden, als Alternative zum – immer seltener stattfindenden – Verkauf. Positive Erfahrungen mit Kunst- und Wohnprojekten können eine Offenheit gegenüber diesen Nutzungen schaffen. Die Aufwertung der Objekte oder Gebiete durch die Anwesenheit und Wirkung von Künstlern kann bei einer Zwischennutzung allerdings auch ausgenutzt werden, bis die Verkaufschancen wieder steigen und die Zwischennutzer ausziehen müssen.

Die Diskussion um eine nachhaltige Stadtentwicklung, die Nutzung von Brachflächen und die partizipative Stadtkultur macht gerade ihre ersten Schritte. Ihre Bedeutung ist allerdings um so deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass sich in den Industrieländern die viel beschworene Schrumpfung der Bevölkerung fortsetzt. Als Folge industrieller Umstrukturierung der Wirtschaft hin zum tertiären Sektor werden industrielle Brachen weiterhin zunehmen. Britische Industriestädte wie Manchester und Liverpool haben innerhalb von nur 70 Jahren einen Bevölkerungsverlust um fast die Hälfte erlebt, die industrielle Beschäftigungskapazität ging von über die Hälfte auf ein Viertel zurück. Bereits Ende der 80er haben sich dort pluralistische Managementsysteme zwischen den Behörden und aktiven Organisationen geformt, welche sich auf die Suche nach einer neuen Identität für die Städte und das Umland begeben und diese wieder attraktiv gemacht haben. Doch die wichtigste Herausforderung, die es anzunehmen gilt, besteht weder in der Wiederbevölkerung der Stadtteile allein noch in der bloßen Sanierung der Haushalte, sondern sie heißt partizipative Nachhaltigkeit.

Die Stadt als Zentrum pulsierender Ideen lebt von ihren Bewohnern. Die nachhaltige Stadt wird durch Kooperationen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren in Partnerschaft mit der Verwaltung entwickelt. So sind „experiment city“ und die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung gemeinsam auf dem Weg, alternative Projekte zu vernetzen, zu veröffentlichen und zu begleiten. Dazu kommt die Akademie der Künste, die auch auf der Suche nach neuen Wegen ist. Die Akademie hat „experiment city“ in die Veranstaltungsreihe „Raum.Orte der Kunst“ integriert und öffnet am 9. Oktober ihre Räume am Hanseatenweg für die Projektbörse.

Berlin, Hauptstadt der Experimente? Selbstbestimmtes Leben in freien städtischen Räumen? Solche Fragen stellen sich die Stadtakteure von id22: Institut für kreative Nachhaltigkeit gemeinsam mit der Akademie der Künste und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bei der Tagung, zu der auch eine Projektbörse und Workshops gehören. Die Projektbörse soll als Ausstellungsspektrum Initiativen von gemeinschaftlich organisiertem Wohnen bis hin zu Kulturprojekten einen Ort für Kommunikation bieten.

Die Autoren sind Mitarbeiter von id22 – Institut für kreative Nachhaltigkeit