Hausbesuch Seit 30 Jahren hat Peter Unsicker sein Wohnatelier in der Berliner Zimmerstraße. Vor seinem Fenster stand die Mauer, die er mit Kunst zu überwinden suchte. Heute sind Immobilienhaie seine Gegner
: Er arbeitet gegen das Verdorbene an

Knarrende Holzdielen, Teelichter, weiße Noten auf schwarzem Flügel, Holz, Gold, Papier, Plastik, dicke Sessel und Kunstwerke überall: Peter Unsicker in seinem Wohnatelier

von Luciana Ferrando
(Text) und Dagmar Morath (Fotos)

Zu Besuch in Berlin-Kreuzberg bei Peter Unsicker, 69. In den Räumen seiner Wall-Street Gallery wohnt er mit der Lebensgefährtin und schafft und verkauft seine Kunstwerke.

Draußen: Entlang der Berliner Zimmerstraße verlief die Mauer – ein Stück steht noch hinter der Wilhelmstraße. Sonst erinnert nur eine zwei Pflastersteine breite Markierung daran. Sie dient Touristen, die zwischen Checkpoint Charlie und Topografie des Terrors pendeln, als Wegweiser. Seit 30 Jahren ist die Wall-Street Gallery von ­Unsicker mitten in diesem Korridor. Zu Mauerzeiten hatte Unsicker Panzer und Soldaten statt Reisebusse und Touristen vor der Tür. Genau gegenüber, aber hinter der Mauer, hockten zu DDR-Zeiten Staatssicherheitsleute; zu Nazizeiten wiederum war das Haus auch Folterkammer und Sammellager für jüdische Zwangsarbeiter. Heute wirbt eine Firma ­„Escape Games“ im Gebäude mit dem Slogan: „Schafft ihr es, zu entkommen?“

Drinnen: Knarrende Holzdielen, Tee und Teelichter, weiße Noten auf schwarzem Flügel, Holz, Gold, Papier, Plastik, dicke Sessel und Kunstwerke überall – Un­sickers Werke aus drei Jahrzehnten. Ihm geht es immer wieder um das Ganze und seine Teile: Es stehen Köpfe hier, die man wie Puzzles auseinanderbaut und wieder zusammensetzt. Einige Köpfe besitzen nach Innen gerichtete Augen, bei einem sitzt der Planet Erde im Schädel anstelle des Gehirns. „Fries des Unsäglichen“ steht auf einem Bild an der Wand.

Die Kündigung: Vor einem Jahr wurde das Haus in der Zimmerstraße zum vierten Mal verkauft. Vor drei Monaten wurde Un­sicker mitgeteilt, bis Juli 2017 die Galerie zu verlassen. Die Kündigung kam von einem Anwalt im Namen des neuen Eigentümers, der – so vermutet Unsicker – ihn weg haben will, um die Räume teurer zu vermieten. „Die Stadt kokettiert mit ihren Künstlern, dann müssen sie als Erste weg“, sagt er. Unverständlich, wie Orte, die eine Rolle in der Geschichte Berlins spielten, vor Investoren und Verdrängung nicht besser geschützt werden. Seine Hoffnung: Eine Sperrfrist verbietet dem Vermieter, zehn Jahre lang Anspruch auf Eigenbedarf zu erheben. Trotzdem möchte Unsicker, dass die Kündigung zurückgenommen wird: „Sie schafft schlechte Luft.“

Die Maßnahme: Haargenau drei Jahre vor dem Mauerfall, am 9. November 1986, eröffnete Peter Unsicker die WallStreet-Gallery. Es war „eine Maßnahme“, die er nach dem Orakel des chinesisches Buchs der Verwandlungen, I-Ging, „Arbeit am Verdorbenen“ nannte. Eine Woche davor war er in der Zimmerstraße angekommen, um dort zu wohnen. „Schnell verstand ich, was es bedeutet die Tür auf zu machen und die Mauer vor der Nase zu haben“, sagt er und gründete den Kunstraum. Künstler hätten eine Verantwortung, die Realität zu verwandeln und Öffentlichkeit herzustellen. „Ohne Öffentlichkeit gibt es keinen Widerstand.“

Früher spiegelte sich in seinem Fenster die Mauer

Der Widerstand: Früher wohnte Unsicker in einem Atelier in der Oranienstraße in Kreuzberg, dem Epizentrum der Westberliner Kunst- und Hausbesetzerszene – alles war damals Rebellion. Er erinnert sich an Nächte in Polizeigewahrsam und an ­Titelseiten der Bild-Zeitung wegen Kunstaktionen. Das sei lustig gewesen, „Widerstand muss lustig sein“.

Das Haus: In der Zimmerstraße war Unsicker das erste Mal in den 70er Jahren; eine Freundin wohnte da. „Ich habe überhaupt keine Lust mehr, hier jeden Tag auf die Mauer zu glotzen“, beschwerte sie sich 1986. „Willst du tauschen?“, fragte er. Sofort fingen sie mit dem Umzug an.

Die Mauer: Bin ich vor oder hinter der Mauer? fragte sich Unsicker jeden Tag, bis die Frage ein Mantra war. „Ich stehe vor der Mauer, ich stehe hinter der Mauer“, sprach er fünf Mal am Tag. Spielerisch suchte er nach Antworten, um etwas gegen die Mauer zu unternehmen. „Eine Mauer ist eine archaische Methode, deshalb fand ich es passend, ein dreitausend Jahre altes Buch wie das I-Ging zurate zu ziehen. „Was durch Schuld von Menschen verdorben ist, kann durch Arbeit von Menschen wieder gut gemacht werden“ sagte das I Ging. So wurde die Mauer für Unsicker Kunstfläche, Arbeitsplatz und „Symbol der Beharrlichkeit“.

Die Wunde: Als erste bildhauerische Intervention der „Arbeit am Verdorbenen“ klebte er ein großes rotes Pflaster und eine Kindermaske an die Mauer. „Es sollte die Verletzungen heilen und das Bewusstsein der Menschen für die große Wunde, die Berlin in zwei Teile zerschnitt, stärken“, schrieb Unsicker. Als DDR-Beamte die Installation abkratzten, wurde ein Freund, der versuchte sie zu retten, verletzt. Unsicker wurde wütend. Er brachte die Maske wieder an und bei jeder Entfernung fügte er eine weitere hinzu. Am Ende waren es 32 Kindergesichter, die wirkten, als drückten sie sich durch den Beton. Die Masken waren nicht das Einzige, was für Ärger sorgte.

Details und das Ganze

Der Osten: „Eines Tages klopften Offiziere der Grenztruppen bei mir und befahlen mir, den ordentlichen Zustand der Mauer wiederherzustellen“, erzählt der Künstler. Eine Tasse Tee lehnten sie ab. „Wir bleiben in unserem Territorium und Sie in Ihrem“, sagten sie und gingen. „Wir sind in Deutschland, ich brauch ein Papier, um das Nutzungsrecht für die 36 Quadratmeter Mauer vor meiner Tür zu erhalten“, dachte er und machte sich auf den Weg zum Checkpoint Charlie. Ob er die Adresse von Erich Honecker haben könnte?, fragte er dort. Aber die Männer, auf die er traf, versuchten nur, ihn als Stasi-Spitzel anzuwerben. „Das muss ich zuerst mit meinen Freunden besprechen, sagte ich und sah sie nie wieder.“ Ein Nutzungsrecht bekam er nicht.

Die Wiedervereinigung: „Ich war nicht unvorbereitet, dennoch kam der Mauerfall mit voller Wucht. Sieht so eine Revolution aus?“ Unsicker sagt: „Nach dem Mauerfall war die Mauer greifbar da, mit ihren reingeschlagenen Löchern, denn jetzt sah man den Todesstreifen.“ Deshalb machten ­Unsicker und andere KünstlerInnen eine „Revitalisierung“ des Todesstreifens, eine Non-Stop-Performance, die 40 Tage dauerte. „Wie die 40 Tage in der Wüste“. Erst als die Kunsttage vorbei waren, fing er an, die Veränderung um ihn herum wahrzunehmen. Die Entwicklung der Zimmerstraße fasst er so zusammen: Sperrmüll der DDR, Menschen in Anzügen mit Aktentaschen auf dem Weg zur Treuhand, Finanzkrise, Galerieviertel, Touristen.

Die Gegenwart: Peter Unsicker ist enttäuscht, weil die Menschen „in einer spirituellen Steinzeit leben: Sie kommunizieren mit Smartphones, aber nicht mit Nachbarn. Deshalb ist der Künstler glücklich, wenn er jemanden zum Tee einladen und die Geschichte Berlins erzählen kann. Widerstand heißt für ihn Beharrlichkeit. „Ich bin aktiv und werde aktiv bleiben. Die Galerie werde ich nicht verlassen, nur weil das irgendein Rechtsanwalt will.“