vor dem mitleid kommt erst mal die Wut. die wut auf jene, die ihr leben so wenig unter kontrolle haben
: Warum wir glauben, unser gutes Leben verdient zu haben

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Am Freitagabend bin ich in ein fast leeres U-Bahn-Abteil gestiegen. Es war deshalb so leer, weil in ihm ein schmutziger, entsetzlich stinkender Mann schlief. Ich hielt die Luft an und stieg an der nächsten Station in ein anderes Abteil um. Ich war empört.

Ich weiß nicht genau, welcher Art diese Empörung war. Aber sie kam mir bekannt vor. Ich glaube, sie kommt immer dann in mir auf, wenn ich etwas sehe, was nicht sein soll. Menschen sollen nicht so schmutzig sein, sie sollen nicht stinken. Sie sollen vor allen Dingen nicht so ein Leben führen. Ich bin wütend auf sie. Genau so ist es. Ich bin wütend auf sie, weil es ihnen so schlecht geht.

Unser Vater war früher wütend auf uns, wenn wir uns als Kinder wehgetan hatten. Wenn wir weinend angelaufen kamen, dann war er wütend und schimpfte uns aus, weil wir „nicht besser aufgepasst“ hatten. Erst nach dieser ersten Wut kam sein Mitleid. Es war erst sein zweites, nachgeordnetes Gefühl. Ähnlich geht es auch mir oft.

Wenn es friert, werde ich sehr wütend auf die Menschen, die immer noch draußen unter der Brücke schlafen. Sie könnten doch sterben. Können sie denn nicht „aufpassen“, auf sich? Ich weiß, dass sie es eben nicht können. Ich muss mir selber erklären, dass ein volltrunkener Obdachloser sehr froh ist, über die Wärme der U-Bahn, dass es ihm egal ist, ob er erwischt wird, ob er eingemacht hat, dass ihm unter Umständen fast alles egal ist, weil er nur noch ein Interesse hat, seinen unerträglichen Zustand zu mildern.

In Hamburg soll es ungefähr 2.000 Obdachlose geben. Das habe ich in der Zeit gelesen. Nicht alle haben ihr Leben derart wenig unter Kontrolle. Es gibt Obdachlose, denen sieht man ihre Obdachlosigkeit gar nicht an. Sie tragen saubere Kleidung und pflegen sich, so weit es ihnen möglich ist.

Derzeit läuft das Hamburger Winternotprogramm. Die Stadt hat 890 Betten in Gemeinschaftsunterkünften und Containern bereitgestellt. Die Übernachtung ist an eine Beratung geknüpft. Obdachlose sollen nämlich „aus ihrer Obdachlosigkeit herauskommen“. Ich habe das in Anführungszeichen gesetzt, weil ich das eine merkwürdige Formulierung finde. Kann man denn in der Obdachlosigkeit drin sein? Ist man nicht vielmehr als Obdachloser draußen, im wahrsten Sinne des Wortes? Auf der Straße, aus der Gesellschaft ausgeschlossen?

Dem nächtlichen Erfrieren im Winter kann ein Obdachloser in Hamburg also entgehen, vorausgesetzt, er nutzt das Angebot. Es gibt aber Menschen, die nutzen keine Angebote, die lassen sich nicht beraten, die betrinken sich und bleiben irgendwo liegen. Solche Menschen müssen von anderen „gerettet“ werden. Von uns zum Beispiel. Wir können dafür sorgen, dass sie für diese Nacht nicht erfrieren. Wir können sie nicht wirklich retten. Wir sind auch keine Retter, wir sind dann nur Menschen, die eine Pflicht erfüllen.

Es gibt nämlich so Regeln des Anstands und der Moral. Eine Regel heißt, wenn ein Mensch auf dem Boden erfriert, rufe jemanden an, der sich drum kümmert. Ein Mensch, der im Winter auf dem Boden schläft, kann sich offensichtlich nicht um sich selber kümmern, obwohl er erwachsen ist.

Einem Kind würden wir so etwas nicht ankreiden. Einem Erwachsenen schon. Wir kümmern uns doch alle um uns selber. Und es ist hart, oder? Das Leben ist ein harter Kampf. Wenn einer in diesem Kampf unterliegt, hat er sich vermutlich nicht genug angestrengt und dann ist er, unter dem Strich, selber Schuld. Darauf läuft es hinaus.

So etwas schwingt vielleicht leider auch in meiner Wut mit. Wir glauben, dass wir unser gutes Leben verdient haben. Wir bemühen uns vielleicht, auch noch anständig zu sein. Denn so wollen wir uns selber sehen, Menschen, die es verdient haben, so zu leben, und die dazu auch noch anständig sind.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.