Der Prozess der Digitalisierung

Kunst In der Kreuzberger Galerie „Schau Fenster“ zeigen sich fünfundzwanzig verschiedene Künstler vom Internet beeinflusst

Videoinstallation der St. Petersburger Künstlerin Anna Jermolaewa, „Kremlin Doppelgänger“ Foto: Schaufenster

von Philipp Fritz

Zwischen der Fensterfront und der Wand steht auf einem weißen Sockel eine übergroße Abbildung einer Atemmaske, scheinbar metallisch, blass-schwarz. So ein Mundschutz wird für gewöhnlich auf Baustellen getragen, hier aber, in der Galerie „Schau Fenster“ in Kreuzberg, ist er zweckentfremdet, trägt den Titel „Selbstportrait“, der Gegenstand kommt dem Betrachter bekannt vor, jedoch: Was soll er damit anfangen? Im Innern der Maske zeigt sich ein Gesichtsabdruck. Die Nase und der Mund gehören Erik Andersen, Künstler und Kokurator von „Under Construction“.

Zusammen mit dem Kuratorenpaar Nina und Torsten Römer, besser bekannt als Römer + Römer, verantwortet Andersen die Ausstellung im „Schau Fenster“. Bis zum 29. Januar an den Wochenenden sind in dem schlauchartigen Raum mit dem 25 Meter langen Fenster in der Lobeckstraße noch 25 Werke so unterschiedlicher Künstler wie Viktoria Binschtok, Emmanuel Bornstein oder Nezaket Ekici zu sehen.

Das Wort Schaufenster ist ins Englische übersetzt „window display“. Für die Kuratoren war dies der Anfang einer Assoziationskette, die sie über Begriffe wie „Monitor“ oder „Internet“ spannten. Das Thema der Ausstellung ist somit der beinahe alle Lebensbereiche betreffende Prozess der Digitalisierung, das Ausfasern des Digitalen ins Analoge. Videoinstallationen spielen dabei eine wichtige Rolle. Mehrere Bildschirme sind nach außen gerichtet, sie strahlen aus dem Raum raus. „Steht der Besucher oder ein Passant vor der Galerie, kommt es ihm so vor, als hätte sich vor ihm, wie auf einem Computer-Desktop, ein neues Fenster geöffnet“, sagt Torsten Römer. Die Bilder im Hintergrund an der Wand wirken wie bereits offene, alte Fenster. Digitalisierung ist Römer + Römer zuvörderst ein ästhetischer Anspruch, Kritik etwa daran, dass durch diese komplette Industriebereiche umgewälzt werden, zwischenmenschliche, direkte Kommunikation abgewertet wird oder dass Fake News, Falschnachrichten, sich auch politisch niederschlagen, wird erst mal nicht formuliert. „Aber natürlich steckt in den einzelnen Arbeiten auch Kritik“, sagt Nina Römer.

Die Videoinstallation der aus St. Petersburg stammenden Anna Jermolaewa, „Kremlin Doppelgänger“, kann als Auseinandersetzung mit einer falschen Wahrheit verstanden werden. Auf den ersten Blick sehen die Bilderschnipsel aus, als hätte die Künstlerin mit dem Bearbeitungsprogramm Photoshop Hand angelegt. Im Wechsel werden Aufnahmen des Moskauer Kreml und der bekannten Basilius-Kathedrale gezeigt und eines Kreml, vor dem Strandliegen aufgebaut sind und Touristen in einem Pool plantschen. Auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Gebäude hinter dem Sand und den Sonnenschirmen Pappschablonen sind. Genau gesagt Kulissen im All-inclusive-Ressort The Kremlin Palace Hotel im türkischen Antalya: ein unter Russen beliebtes Urlaubsziel.

„Sprache wird im Internet immer unwichtiger, stattdessen treten Bilder nach vorne“, erklärt Torsten Römer die kritische Herangehensweise von Viktoria Binschtok. Die Künstlerin habe ein Suchmaschinenmotiv gewählt, ein Blick vom Rocksaum der Freiheitsstatue, und dann ein damit in Verbindung stehendes Ergebnis kombiniert, eine Art Glas­skulp­tur. „Statue and Fish“ heißt das Kunstwerk, zu dem auch ein Gedicht existiert: „Die Fotografie im Zeitalter ihren globalen Verfügbarkeit“. Binschtok schreibt: „Ich drücke auf den Algorithmus-Knopf“ und „ich bediene mich“. Einander scheinbar Fremdes steht auf einmal in Verbindung zueinander.

Am Internet bedient haben sich freilich auch die Kuratoren. „Wir nutzen Social-Media-Kanäle, um auf unsere Kunst und unsere Ausstellung aufmerksam zu machen“, sagt Nina Römer.

Grundsätzlich ablehnend stehen die beiden dem Web 2.0 also nicht gegenüber. „Die Künstler hier nutzen die Möglichkeiten des digitalem Raums und setzen dann etwas in der analogen Welt um“, so Römer weiter. Ihr Ansatz sei es, Dinge zu verschränken. Und Torsten Römer fügt an, dass man ja über einige Objekte gar nicht sagen könne, ob sie Skulpturen oder Performance-Art seien.

Mehrere Bildschirme leuchten wie Fenster auf dem Computer-Desktop

Das Ausstellungsstück selbst, das Römer + Römer selbst beigesteuert haben, ist ganz sicher ein Gemälde. Freilich in Pixelmanier und die Figur in „Schaumwein-Leuchtkörper“ ist nur zu erahnen, unter einem Stoff kommt eine Flasche hervor, unter einem Lampenschirm ist ein Kopf – vielleicht.

Und warum der Titel „Under Construction“? Ein Künstlerleben sei immer im Werden, vor jedem Werk müsse wieder von Anfang an gedacht werde, erklärt Torsten Römer. Es ist dann sozusagen „im Bau befindlich“. Außerdem ist „Under Construction“ der Hinweis, der aufpoppt, wenn ein User eine Seite besucht, die gerade nicht abzurufen ist – schon wieder das Internet.

Über ein Jahr haben Römer + Römer und Kokurator Erik Andersen unterschiedliche Künstler getroffen und es geschafft, für unterschiedliche Ausdrucksideen einen Rahmen zu schaffen und ein verbindendes Thema zu liefern: Digitalisierung. Wären sie nicht selbst drauf gekommen, sie hätten es wohl googeln müssen.

Bis 29. Januar, Schau Fenster, Lobeckstr. 30–35, Fr.–So. 15 bis 20 Uhr. Am 22. und 29. Januar um 17 Uhr Führung mit Kerstin Godschalk