Dankbar Mit Lebenslust sich dem Thema Tod nähern: Freddy Derwahls sperrig-schöne Erzählung „Nonna stirbt“
: Die Kraft des Glaubens und der Zweifel daran

Nonna, Anfang sechzig, ist eine lebensliebende Frau mit Sinn für Gedankenaustausch, Philosophie, Erkenntnissuche. Sie spricht über „Freidenker im finalen Stadium“, über „namenlosen Weltschmerz“ und nennt Belgien „ein nicht ganz geglücktes Collage-Kunstwerk, nicht nachahmenswert, weil unkopierbar“. Nonna, „die Frau mit dem Kinderglauben an die Wunderkräfte des Schönen“, erinnert sich empört an den Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940 in Eupen: „Sie haben das Wort Heil pervertiert.“

Der Autor Freddy Derwahl hat eine große Melange über Sterben und Glückseligkeit geschrieben – aus scheinbiografischer Ich-Erzählung und Nonnas fiktiven Tagebuchaufzeichnungen. Schauplätze sind die Eupener Unterstadt und das provencalische Dorf Lourmarin (Heimatort von Albert Camus, dem Derwahl sein nächstes Buch widmen will), Zeit des Geschehens: 1976 bis 1979. Immer geht es, von subtilem Wortwitz geschmiert, doppelseitig zu: Lebensfreude – Krankheit; Daseinslust – Siechtum; knospendes Leben – welkendes Leben.

Und es wird viel gestorben, meist bei wachem Geist. Nonnas Gatte Max, der mit zarten Sechzig an Alzheimer erkrankt, richtet sich nach der Diagnose selbst. Selbsttötung als fürsorglicher Abgang, für sich und die Nahestehenden. Dem dreißig Jahre jüngeren Fred öffnet Max’ Tod die Nähe zu Nonna, eine kaum zwei Jahre währende Liaison mit maximal „keuschen Küssen“, mit Andeutungen, Nebeln und dem Geraune der Dörfler.

Ein düsteres Buch? Gar nicht. Dem Tod wird mal naseweis der Finger gezeigt, immer wird er als Lebensgefährte akzeptiert. Nonna kommentiert das Ende ihres Mannes: „Sein Weltvertrauen hat nicht gereicht, Gottvertrauen kannte er nicht.“ Auf einem Kindergrab stehen die lapidaren Trostworte: „Morgen schulfrei.“

Die Zeit notierte einmal: „Derwahl schreibt von der mühsamen Suche nach Erfüllung, dem Abenteuer Einsamkeit, von Lebensgier und Last der Lüste.“ Und wie so oft bei Derwahl spielen auch bei Nonna die Kraft des Glaubens und der Zweifel daran eine Rolle, faszinierend für staunende Atheisten. Nach Derwahls Schelmenroman „Bosch in Belgien“ über Jahrzehnte grotesker politischer Wirrnis im Eupener Land war es ähnlich im Roman „Eine fliehende Frau“ (2011). Da irrt die Suchende durch Belgien, macht viele irritierende Bekanntschaften und lebt die Last der Lüste in der harten Bettstatt eines Mönchs von Orval aus.

Nonna notiert über ihre studierende Tochter in Leuven: „Dass die Uni katholisch ist, schadet ihr nicht, es macht ihren Unglauben milder.“ Fred berichtet Nonna von der „Entdeckung eines erotischen Engels auf der Kanzel der Marienkirche: nackte Brust, nacktes Bein, sehr souverän“. Tja, den armen Protestanten fehle eben „die weibliche Seite Gottes“. Oder, als ein Pfarrer gestorben war: „Die Nachbarn bemerkten, dass er nach dem Mittagsschläfchen nicht zur Beichte erschienen ist. Das war ungewöhnlich, er liebte dieses Sündengeflüster.“

Derwahl ist ein Meister überraschender Sentenzen: „Sterben ist Mitarbeit an der Schöpfung.“ Oder: „Heiterkeit ignoriert den Ernstfall Freude.“ Leseflussbremsen sind das, Sperren zum Nachdenken: Stimmt das? Hmmm … Als König Juan Carlos 1976 den Karlspreis erhält: „Karolingische Phantasien, mit etwas Sangria angerührt“. Nonna kennt „Tränen nur als dankbare Konzession an das Glück“.

Ein Fauxpas muss indes erwähnt sein: Die krebskranke Nonna wird 1978 im Aachener Klinikum in Melaten endbehandelt. Dabei wurde das Unispital erst 1985 eröffnet. „Freudsche Fehlleistung“, entschuldigt der zerknirschte Autor: „Dieses Monster hat mich schon immer als eine technologische Art von Kannibalismus fasziniert. Solche Dinge sitzen tief“, erzählt er, zumal er dort selbst einmal „bewusstlos eingeliefert worden“ sei und „der Genesungsmaschine ausgeliefert“. Mildernde Umstände: ein Lapsus als dankbare Konzession an ein glücknäherndes Buch. Bernd Müllender

Freddy Derwahl: „Nonna stirbt“. Herder, Freiburg 2016, 160 Seiten, 14,99 Euro