: Die verspielte Chance
Russland Heute beginnt das Festival „Utopische Realitäten“, das die russische Revolution von 1917 zur Gegenwart befragt
von Katja Kollmann
Die Tore zum „ewigen Russland“ stehen weit offen auf der Bühne des HAU 3. Rostrot ist die Mauer, auf die jemand „Eternal Russia“ gepinselt hat, hölzern das Tor, dahinter ein langer Perserteppich. Es ist laut. Die Techniker des HAU 3 lassen hier einen Bühnenraum entstehen, der wie ein Parcours aufgebaut sein wird. Marina Davydova, Theaterkritikerin und -historikerin, spricht von einer Reise, auf der die Besucher des Parcours Russland in verschiedenen Zeitepochen erfahren werden. Ihr Text, ein fachkundiger und gleichzeitig sehr persönlicher Kommentar zu den Chancen und Verwerfungen der russischen Geschichte, wird der Reiseführer sein.
Die renommierte Moskauer Theaterkritikerin und Festivalkuratorin debütiert so zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution als Theaterautorin und Regisseurin im Rahmen des Festivals „Utopische Realitäten – 100 Jahre Gegenwart mit Alexandra Kollontai“ im HAU.
Zusammen mit der Bühnenbildnerin Vera Martynov und dem Komponisten Vladimir Rannev will sie einen Raum entstehen lassen, in dem „reale und imaginierte Gegenstände, Geräusche und Ideen“ die alleinigen Protagonisten sind; nur manchmal illustriert durch die Kurzfilme „Utopia 1, 2 und 3“.
Marina Davydova ist fasziniert vom beständigen, unkontrollierbaren Eigenleben der Ideen, wenn sie nicht mehr privat, sondern öffentlich sind. Große Utopien machen zuerst flügge, denkt sie laut, um dann die Gesellschaft unter Schmerzen wieder zur Ausgangssituation zurückzuführen. Ist das Determination?, fragt sie rhetorisch.
Was sie umtreibt, sind die Chancen, die die russische Gesellschaft nach der Februarrevolution von 1917 hatte. Denn mit der Rede, Presse- und Versammlungsfreiheit und der Aufhebung aller Standes-, religiösen und nationalen Beschränkungen wurden die Grundlagen einer funktionierenden Demokratie gelegt. Und bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung sollten alle Menschen unabhängig von Geschlecht und sozialen Status ab 20 Jahren zugelassen werden. So hatte Russland im Sommer 1917 das liberalste Wahlrecht Europas.
Marina Davydova beschäftigt eine Frage, auf die es keine Antwort, nur eine Annäherung im Parcours geben kann: Hatte die russische Gesellschaft im Jahr 1917 eine reelle Chance, eine auf freiheitlichen Prinzipien basierende Gesellschaftsform aufzubauen, oder hätten sich, wenn nicht die Bolschewiki, andere Diktatoren an die Macht geputscht?
Alexandra Kollontais Ideen zu einer radikalen Neudefinition der Rolle der Frau in der Gesellschaft fließen in den Parcours mit ein, spielen aber keine herausgehobene Rolle, sagt Davydova. Der argentinische Regisseur Mariano Pensotti wiederum fokussiert seine Inszenierung „Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht“ auf die Visionen Kollontais. Eine seiner Protagonistinnen schreibt sogar eine Doktorarbeit über diese frühe Feministin, die ihre Vorstellungen eines finanziell und emotional selbstbestimmten Lebens ab 1917 umsetzt.
Eine andere Figur reist in den Norden Argentiniens, wo Nachfahren russischer Emigranten aus der Zeit der Oktoberrevolution heute als Prostituierte arbeiten. Welche Ideen der russischen Revolution sind noch aktuell, fragt sich Pensotti. Für ihn ist – im Gegensatz zu Davydova – die Oktoberrevolution der Referenzpunkt.
Vom 12. bis 22. Januar wird im Hebbel am Ufer im Kontext von „Utopische Realitäten – 100 Jahre Gegenwart mit Alexandra Kollontai“ überprüft, ob die politischen und künstlerischen Impulse, die vor hundert Jahren durch zwei Revolutionen freigesetzt worden sind, heute noch relevant sind. Die kurze Symbiose zwischen Politik und Kunst holte damals das Denken in Utopien in den Wirkungsbereich des Alltags. Mit Inszenierungen, Performances, Gesprächen, Installationen und Musik soll Abstand und Nähe zu den Visionen eines vergangenen Zeitalters ermessen werden.
Marina Davydovas Parcours wird auch in Moskau zu erleben sein. Neue theatrale Formate werden in der russischen Hauptstadt viel schwerer angenommen als in Berlin, sagt sie. Ich schaue auf die rostrote Mauer, das Holztor und das hingewischte „Eternal Russia“ auf der Bühne des HAU 3. Diese kleine, spielerische Kremlmauer lässt mich nicht an den Kreml in Moskau denken, sondern an alte, vergessene Städte, die alle einen Kreml hatten: die kleine Kremlmauer als Sinnbild einer vergangenheitsverklärenden Nation, die in ihrem kollektiven Erinnern die Februarrevolution von 1917 konsequent ausspart, sinniere ich. Marina Davydova aber möchte nicht zu viele Details über den eigentlichen Parcours verraten. Denn das Überraschungsmoment spielt in ihrer Dramaturgie eine wichtige Rolle, erklärt sie und schließt die Tore zu ihrem fiktiven Kreml.
„Utopische Realitäten“, 12.–22. Januar im HAU 3
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