ausgehen und rumstehen
: In Deutschland, um Deutschland, um Deutschland herum

Wenn die Kunst als Kunst schreit „Anything goes!“, dann ist das irgendwie niedlich – und manchmal kommt auch ganz Peinliches dabei rum. Aber wenn die kritischen Köpfe der Kunst zuschreien „Sei wachsam, es geht längst nicht alles!“, dann ist das irgendwie auch peinlich – und oft ein bisschen arg alarmistisch ins Kraut geschossen.

Am Samstag war erst mal anything goes. Da feierten echte und unechte Künstler die Eröffnung des zweiten Berliner Kunstsalons im Club 103. Die Eintrittskarten glänzten affig in Lila-Metallic – ein paar betrunkene Holländer gerieten außer sich, als man ihnen am Eingang welche davon schenkte. Bei diesem völkerverständigenden Überschwang dürfte dieser Bibliotheksleiter in dieser niederländischen Kleinstadt, über den man in der Zeitung las, dass er Deutsche an Holländer zum toleranzfördernden Gespräch verleiht, seinen Laden bald wieder schließen müssen. Die Künstler und die betrunkenen Holländer feierten ein heiteres, etwas unbeholfenes Kleinkunstfest. Zur Techno-Musik verrenkten sie sich sehr ausdrucksstark und so, als hätten sie noch nie einen geraden Vierviertelbeat gehört. Dem stoischen Punkliedermacher Doc Schoko spendeten sie immer dann höflichen Applaus, wenn er einen Song spielte, der sich nach Düsseldorfer Kunsthochschule Anfang der Achtziger anhörte. Der Performer John Callaghan hätte bei einem Michel-Foucault-Lookalike-Contest gute Chancen auf den Sieg gehabt. Er zog es aber vor, sich Neonleuchtstäbe unter seine Ganzkörper-Nylonzweithaut zu schieben und im grün glitzernden Unterhöschen Yoga-Übungen vor dem Mikrofon zu machen. Die Zuschauer liebten ihn von ganzem Herzen. Das entspannte ihn sehr, und er sagte, er möge Deutschland, weil in London, wo er herkomme, nie auch nur irgendjemand seine Auftritte zu schätzen wisse.

Am nächsten Tag wollte man dann einen weiten Bogen machen um verkünstelte Entspanntheit und Deutschland-Mögerei. Am Vorabend dieses Feiertags, den man lieber nur als Frei-Tag begeht, wanderte man zur Volksbühne. Dort sollte es Musik und Diskussion geben anlässlich der Tatsache, dass vor ein paar Wochen eine Aktivistengruppe aus Leipzig den Sampler „I can’t relax in Deutschland“ veröffentlicht hat. Jetzt ist Nicht-Entspannen in Deutschland ja erst mal völlig richtig – wenn Entspannen im Deutschpop heute viel zu oft heißt: Sich einkuscheln in schwarzrotgoldene Fahnen, „Neue Heimat“-CDs herausgeben, das schwere Rucksäcklein der Vergangenheit endlich von den schmalen Slacker-Schultern nehmen, den Ruck wollen, den Stolz und die Zuversicht. Ob es aber die beste aller Ideen ist, es wie die „I can’t relax“-Gruppe zu machen und einen deutschen Sampler voll mit deutschen Bands zusammenzustellen, um sich damit „negativ auf Deutschland zu beziehen“, das ist die Frage. Um die aber ging es gar nicht so sehr bei der Podiumsdiskussion im Volksbühnen-Sternfoyer.

Stattdessen durfte man einem hübschen Stellungskrieg beiwohnen: Die eine Hälfte der Gesprächsteilnehmer haute mit der antideutschen General-Keule um sich, während die andere ganz kulturwissenschaftlich differenziert die vielen Seiten an der einen Sache anschauen wollte. Ein Video des Rappers Fler, in dem der mit Deutschlandfahne am Motorrad und Adler auf dem Arm auf seiner „neuen deutschen Welle“ reitet, war für die einen dann der schlagkräftige Beweis fürs neonationalistisch daherkommende Monsterdeutschland, während die anderen einfach nur ein kraftmeierndes „Ich bin der Stärkste“-Getue darin erkennen wollten. Man lernte: Es lässt sich in der Linken allerbestens entzweien über der Frage, ob das Schwenken von Deutschlandfahnen eindeutig böse oder mehrdeutig dämlich ist. Das versuchte man zusammen mit Brezel und Bier zu verdauen.

Dabei half die Musikerin Kevin Blechdom, die im kartoffelsackartigen Abendkleid, mit Cowboyhut, drei Mitmusikerinnen und zwei Konzertflügeln auf die Bühne trat und eine Nummernrevue hinlegte, die so gar nichts mit dem Thema des Abends zu tun hatte. Kevin Blechdom sagte gar nichts für oder gegen Deutschland, sondern schmelzte, kreischte und seufzte mit größter kunstfreier Selbstverständlichkeit einfach über ihr Lieblingsthema, den Herzschmerz. KIRSTEN RIESSELMANN