als fischkutterkapitän in omas küche von JOACHIM SCHULZ
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Meine Oma war eine große Köchin, und sie war – wie jeder wirkliche Meister am Herd – absolut unerschrocken. „Wer gut essen will“, sagte sie, „muss Opfer bringen.“ Am eindrucksvollsten trat diese Opferbereitschaft zutage, wenn sie ihr grandioses Schweinenierenragout kochte.

Jeder, der sich jemals an die Zubereitung von Nieren wagte, weiß, welch hohes Maß an Furchtlosigkeit und Stehvermögen das verlangt. Um Nieren genießbar zu machen, muss man sie von Häutchen und Harnsträngen befreien, penibel waschen, dann pochieren oder in Milch einlegen, und der Geruch, der sich dabei entwickelt, erinnert so penetrant an ein verwahrlostes Urinal, dass selbst hartgesottene Köche bisweilen ohnmächtig niedersinken.

Meine Oma jedoch konnte das nicht schrecken: Sie pfiff ein fröhliches Lied und brachte es sogar fertig, sich – vom Hunger auf einen Imbiss übermannt – während des Nierenputzens ein Marmeladebrot zu machen und es beim Säbeln an Häuten und Röhren nebenher zu verspeisen.

Indessen war der Gestank leicht durch ordentliches Lüften zu beseitigen. Wenn meine Mutter, meine Schwester und ich eintrafen und unsere Plätze am Tisch einnahmen, durchwallte nur noch der Wohlgeruch des fertigen Gerichts die Küche. Anders sah das aus, wenn meine Oma ihren sagenhaften gekochten Schellfisch mit Senfsauce fabrizierte: So weit sie die Fenster auch aufriss – das Odeur des kochenden Fisches drang durch geschlossene Türen bis in den letzten Winkel der Wohnung, setzte sich in Kopfkissen fest und überdeckte auch den Lavendelgeruch, der für gewöhnlich im Kleiderschrank herrschte. Selbst die Äpfel, die in einer Schale im Wohnzimmer lagen, schienen einen fischigen Geschmack anzunehmen. Mir war das egal. Ich verspeiste exorbitante Portionen Schellfisch mit Sauce und verschmähte auch den Apfel zum Nachtisch nicht. Denn irgendwie rundete sein an Fischkutterkapitänsuniform erinnerndes Aroma das Mahl erst so richtig ab.

Das änderte sich jäh, als ich mich für Mädchen zu interessieren begann und an einem Nachmittag im Mai 1977 das erste Rendezvous meines Lebens stattfinden sollte. Kaum hatte ich Marlies, die Klassenschönste, wie verabredet vorm Eiscafé „Cortina“ getroffen, rümpfte sie die Nase. „Hast du dich“, murmelte sie, „mit Fischmehl eingerieben, oder was?“ – „Wie?“, machte ich: „Ach, nein: Das ist der Schellfisch. Weißt du, ich war zum Essen bei …“ Doch das wollte sie schon nicht mehr hören. „Du bist widerlich!“, schimpfte sie, dampfte ab und sprach nie mehr ein Wort mit mir.

Als ich wieder zu Hause war, verkündete ich, künftig nur noch bei meiner Oma zu essen, wenn es geruchsneutrale Gerichte gebe. Oma hielt sich an diese Bedingung, blickte mich aber seitdem nur noch sehr, sehr traurig an. Erst Jahre später lernte ich, dass wirklich großartige Frauen nicht die Nase rümpfen, wenn man riecht wie ein Fischkutterkapitän, sondern verzückt mit der Zunge schnalzen, sobald sie die Worte „Schellfisch mit Senfsauce“ hören. Doch da konnte ich Oma schon nicht mehr um Verzeihung bitten, weil sie bereits gestorben war, und so werde ich den Rest meiner Tage in dem Bewusstsein leben müssen, ihr das Herz gebrochen zu haben.