BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Das Inferno der Entsorgung

Kinder brauchen Helden. Wenn schon nicht die Eltern, dann wenigstens die Männer von der Müllabfuhr

Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Schlafende Kinder erst recht nicht. Und so ist unser Kinderzimmer auch sofort mit Heulen und Zähneknirschen erfüllt, als ich die Vorhänge aufziehe. Stan rüttelt wütend an den Stäben seines Gitterbetts, Tina tritt nach mir und sucht nach härteren Wurfgeschossen als dem Teddy.

Plötzlich rumpelt es unten auf der Straße. „Bagga!“, ruft Stan und lacht. Tina springt aus dem Bett und rennt zum Fenster. „Das Müllauto!“, kreischt sie. Wir hasten auf den Balkon. Unter uns knallen die Männer in Orange die Restmüllcontainer über die Straße. Rrrrruuummms! zieht die Maschine sie hoch. Kraawammm! leert sie sie aus. Badang-badang! haut sie die Tonnen wieder aufs Pflaster. Dann rumpeln die Männer mit den Tonnen über den Bordstein, knallen die Hoftore, schreien Kommandos, es hupt der Laster, es röhrt der Motor. Verzückt betrachten wir das Inferno der Entsorgung. Als der Laster in einer schwarzen Dieselwolke hinter der Ecke verschwindet, sind alle Tränen vergessen. Die Kinder springen in ihre Sachen. Der Tag ist gerettet.

Das Leben mit Kindern hat meine Einstellung zu den kommunalen Dienstleistern radikal verändert. Früher waren sie die Deppen mit den Mülleimern. Die Verkehrsrowdys mit dem Martinshorn. Die Büttel des Überwachungsstaats. Jetzt sind sie unsere Helden: die Müllmänner. Die Feuerwehrleute, die PolizistInnen, die Pfleger und Ärztinnen im Krankenhaus, die Kiez-Sheriffs vom Ordnungsamt, die Elektriker, Heizungsbauer und Gaswerker.

An wie vielen Feiertagen, Straßenfesten, Geburtstagen und Tagen der „Offenen Tür“ haben wir den öffentlichen Dienst in vollem Kampfanzug bestaunt: probespritzen bei der Feuerwehr mit Drehleiter fahren! Anlegen der Atemschutzmaske und tief einatmen! Aufsitzen auf dem Motorrad der Polizeistaffel (mit Helm)! Besuch in der Ausnüchterungszelle! Hebel bedienen an der Müllpresse! Mullbinden wickeln in der Notaufnahme!

Auch zu Hause ist die staatliche Daseinsvorsorge stets präsent. Im Regal parken das Playmobil-Müllauto und die Feuerwehr. Lego liefert den Krankenwagen. Im Schrank liegen die T-Shirts mit der aufgedruckten Polizeiuniform.

Seit Jonas Mitglied der freiwilligen Polizeireserve ist, sehe ich die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst mit anderen Augen. Und wie hip Müllmänner sein können, hat die Berliner Stadtreinigung vor ein paar Jahren entdeckt: Mit einer grandiosen Werbekampagne („We kehr for you!“) hat sie Orange lange vor der Revolution in der Ukraine und Lichtjahre vor der gescheiterten Revolution der CDU zur Kultfarbe erhoben.

Doch unsere Helden sind bedroht: Weil der öffentlichen Hand das Geld fehlt, sterben überall die Vorbilder aus. Es gibt immer weniger U-Bahn-Schaffner, es gibt kürzere Zeiten bei den Müllfahrern, und die Polizei streicht Reiterstaffel, Motorradstaffel und Polizeiorchester zusammen. Selbst die Zahl der Wohnungsbrände geht stark zurück. Die Zukunft unserer Kinder steht auf dem Spiel! Beim öffentlichen Dienst sparen und gleichzeitig kinderfreundlich sein – das geht nicht!

Oder doch? Eigentlich müsste sich der Staat nur zusichern lassen, dass neben den Sozialstandards beim Outsourcing darauf geachtet wird, dass ein bestimmter Heldenfaktor eingehalten wird: dass die privaten Entsorger mindestens genauso laut sind, die nichtstaatlichen Busfahrer auch eine Uniform tragen und die grimmigen Security-Typen sich ebenso geduldig peinliche Löcher in den Bauch fragen lassen („Wie viele Räuber hast du erschossen?“) wie die Staatsdiener.

Den neoliberalsten Vorschlag aber hatte Anna. „Eigentlich brauchen wir weder Polizei noch Feuerwehr oder Müllabfuhr“, sagte sie. „Wir müssten nur ein Blaulicht, eine Drehleiter und eine Müllpresse an unserem Auto anbringen.“ Damit wäre der öffentliche Dienst endgültig privatisiert. Das hätte einen großen Vorteil: Mit welcher Laune unsere Kinder aufwachen, wäre nicht mehr dem Zeitplan der Müllabfuhr überlassen.

Fragen zur Erziehung?kolumne@taz.deMorgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN