: Zwischen Doku und Fiktion
Videokunst Die Kunsthalle zeigt die erste Einzelausstellung mit Arbeiten von Clemens von Wedemeyer. Dessen komplexes Werk kann man nicht mal eben so durchschauen
von Frank Keil
Wann genau kippt die Situation, wird aus einer Ahnung Gewissheit? Wenn sich der nun zum Präsidenten gewählte Kandidat im Backstagebereich der Nominierungshalle das frische, weiße Hemd überstreift? Wenn der Hausmeister kommt und das Konfetti, das eben noch durch die Luft segelte, mit wenigen Besenstrichen zusammenfegt? Wenn die Journalistin strammen Schrittes kommt? Oder wenn der Frischgewählte hinter der Bühne mit Blick auf sein Redemanuskript für sich ausruft: „Ich will weder das eine noch das andere tun. Man muss sich verweigern! Es ist mir klar, dass der einzige mögliche Schritt ist, die vor mir liegende Macht nicht anzunehmen. Das ist meine Entscheidung.“
Aber wird er das tatsächlich sagen, wenn er vor seine vor Begeisterung tobenden Anhänger tritt, die wir hören, aber nie sehen? Kurzum: Von Wedemeyers Video vom Sieger, der – kaum ist er einer geworden – kein Sieger mehr sein will, könnte anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl zum Hit in der Kunstszene werden. Nicht, weil das Szenario vom Verzicht auf die Macht sonderlich realistisch wäre. Sondern weil von Wedemeyer auf eine ganz eigene Weise unsere müde Hoffnung aufgreift, der Kandidat könnte die ihm zugetragene Macht, die ihn korrumpieren wird, doch ausschlagen, um gut zu bleiben.
„Die Probe“ heißt die Arbeit, die nicht zufällig aus dem Jahre 2008 stammt, als in den USA und Russland, in Italien und Spanien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen und in Deutschland vier Landtagswahlen stattfanden. Geschnitten als Loop, sodass Auftritt, Abtritt und möglicherweise neuerlicher (letzter?) Auftritt sanft ineinanderfließen; besetzt in der Hauptrolle mit Bernhard Schütz – immer wieder engagiert von Wedemeyer professionelle Schauspieler und mischt so Videokunstwelt und die Welt von Film und Fernsehen. Zu sehen ist das Werk noch bis Sonntag in der Hamburger Kunsthalle, die von Wedemeyer eine Retrospektive widmet.
Visuelle Annäherung
Seinen Durchbruch erlebte von Wedemeyer mit einer dreiteiligen Videoinstallation auf der letzten Documenta: „Muster“ erkundet die Geschichte des einstigen hessischen Klosters Breitenau. Das war erst preußisches Arbeitshaus, ab 1933 kurz Konzentrationslager, dann sogenanntes Arbeitserziehungslager. Später, bis in die 1970er-Jahre, wurde es als Mädchenerziehungsheim genutzt, war Rechercheort und damit Vorlage für Ulrike Meinhofs Fernsehspiel „Bambule“. Heute beheimatet es sowohl eine psychiatrische Klinik als auch eine Gedenkstätte.
Von Wedemeyer thematisiert auf drei Projektionswänden immer wieder, wie sich wer dem Gebäude und seiner Funktion auch visuell genähert und es gespiegelt hat. So werden wir Zeuge einer Führung einer Schulklasse, während der ein sich moralisch überlegen gebender Lehrer vorgibt, den Schülern die dunkle(n) Geschichte(n) des Klosters nahezubringen. Bei der Sicht auf das zu Sehende aber duldet er dabei keinen Widerspruch: Wer Lehrer nicht mag, wird hier Zustimmung für seine Haltung finden.
Gnadenlos zerlegt
Einnehmend und stark ist auch die Arbeit „Big Business“: Ein Auto wird ebenso in seine Einzelteile zerlegt wie ein zuvor aufgebautes Haus. Dabei hauen die Protagonisten mit gnadenloser Präzision alles kurz und klein. Und ebenso kurz denkt man (Kulturbürger, der man ja ist): Oh, das Klavier da, wie es mitten im Zimmer steht, das die Herren brachial zerlegen, ihm wenigstens wird kein Leid angetan, es wird unbeschadet stehenbleiben, quasi als Symbol des doch Erhaltenswerten – aber Pustekuchen!
Von Wedemeyer bezieht sich dabei einerseits auf den gleichnamigen anarchischen Stummfilm mit Stan Laurel (Doof) und Oliver Hardy (Dick). Andererseits greift er die Praxis in Haftanstalten auf, die dortigen Insassen zur Schulung handwerklicher Fähigkeiten etwas bauen zu lassen, das für sich gesehen aber funktionslos bleibt – und also wieder zerstört werden wird. Realisiert wurde die Arbeit in der sächsischen Justizvollzugsanstalt Waldheim – eine ganz eigene Welt.
Im Vergleich dazu kommt seine Arbeit „Square“, die er eigens für die Hamburger Kunsthalle konzipierte und realisierte, geradezu poetisch daher: Wir schauen aus großer, fast luftiger Höhe (hat er da eine Drohne eingesetzt?) auf den quadratischen Platz zwischen der alten Kunsthalle und dem neueren Unger-Bau, in dem wir uns gerade befinden; sehen Menschen von oben, die einzeln, in Paaren oder Gruppen ihrer Wege gehen, bis sie sich plötzlich aus unerfindlichen Gründen zu geometrischen Formationen zusammenfinden, um dann schnell wieder auseinanderzustreben. Und alles beginnt wieder von vorn.
Eine weitere Arbeit führt nach Kurdistan, zu einem eigenartigen Kinoprojekt am Tag des kurdischen Neujahrsfestes. Eine andere verarbeitet in einem eigentümlichen Mix aus Realfilm und Videospiel-Ästhetik die Filmaufnahmen eines Rittmeisters der Wehrmacht kurz vor Kriegsende. Die Hamburger Kunsthalle hat sich nicht lumpen lassen und präsentiert mit elf komplexen Videoarbeiten, einer Fotoserie und einer raumfüllenden Installation als erstes Kunsthaus eine Übersichtsschau des heute in Berlin lebenden und in Leipzig unterrichtenden Künstlers.
Umfassende Übersicht
Darin liegt aber auch ein Problem: Wer soll sich das alles ansehen und es auch noch verdauen? Mehr als fünfeinhalb Stunden wären nacheinander zu bewältigen – vorausgesetzt, man betritt immer dann das jeweilige Videokabinett, wenn die dortige Projektion gerade einsetzt. Und so konkurriert der Sog der Bilder mit den in den Werken angelegten Irritationen, Brüchen und Fragestellungen – was beim Betrachten durchaus Kraft kostet.
Deshalb zuletzt ein schlicht der Besuchspraxis verpflichteter Tipp: Die anfangs skizzierte Arbeit „Die Probe“, die richtig, richtig gut ist und mit Blick auf die Bundestagswahl im September aktuell aufgeladen werden wird, befindet sich ziemlich am Ende des Rundganges! Also besser gegen die vorgezeigte Richtung gehen: Es lohnt sich.
bis So, 8. 1., Kunsthalle. Öffentliche Führung am Sonntag um 14 Uhr
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