Eine Geschichte der Verlogenheiten

Seit vierzig Jahren hält die EU die Tür zum Bosporus einen kleinen Spaltbreit auf. Seit gestern ist der Spalt nach heftigem Türenschlagen ein wenig vergrößert geworden

BRÜSSEL taz ■ Im Kalender der britischen Ratspräsidentschaft war der Außenministerrat gestern in Luxemburg eigentlich ein Routinetermin. Iran, Westbalkan, der Russlandgipfel heute in London – und anschließend ein nettes Abendessen mit den Gästen aus Ankara. Bei türkischem Tee und französischem Champagner hätte ein Schlusspunkt und ein Neubeginn gefeiert werden sollen: Das Ende eines seit 1963 dauernden Gezerres darum, ob und wie die Türkei zu Europa gehört. Und der Beginn eines auf mindestens zehn Jahre angelegten Verhandlungsprozesses, dessen Ziel der Beitritt ist.

So steht es in den einstimmigen Beschlüssen des EU-Gipfels im vergangenen Dezember. So stand es bereits 1999 im Abschlussdokument des EU-Gipfels in Helsinki: „Der Rat stellt fest, dass die Türkei ein beitrittswilliges Land ist, das auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen beitrittswilligen Länder gelten, Mitglied der Union werden soll.“

Damals hatte Österreichs damaliger Außenminister Wolfgang Schüssel den Beschluss ebenso mitgetragen wie im Dezember 2004. Warum also zog er vergangene Woche die Notbremse? Kenner der österreichischen Innenpolitik erinnern daran, dass die Vorbehalte Wiens schon immer größer waren als die anderer EU-Regierungen.

Für 17.00 Uhr war gestern der feierliche Beginn der Beitrittsverhandlungen geplant. Doch erst wenige Minuten vor diesem Termin konnten sich die 23 EU-Staaten mit ihren widerstrebenden Mitgliedern Zypern und Österreich einigen. Zuletzt hatte offenbar die Chefanklägerin des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, Carla del Ponte, den Weg für eine Zustimmung Wiens frei gemacht. Sie bewertet in einem Bericht für die Außenminister die Bereitschaft der kroatischen Regierung zur Zusammenarbeit mit dem Gericht positiv. Sie scheine den politischen Willen zu haben, den noch gesuchten mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ante Gotovina zu finden. Die Zusammenarbeit mit dem Gericht ist Voraussetzung für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Kroatien. Der südöstliche Nachbar wird von Wiens Konservativen schon lange als kommendes EU-Mitglied protegiert.

Unerklärlich blieb, warum die österreichische Regierung oder andere Zauderer wie Zypern oder Frankreich ihr Veto nicht im Juli einlegten. Damals hatte Ankara zwar erklärt, die Zollunion auf die zehn neuen EU-Mitglieder ausweiten zu wollen. Gleichzeitig machte die Türkei aber klar, eine Anerkennung Zyperns sei damit nicht verbunden. Das wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, um darauf hinzuweisen, dass Absprachen von beiden Seiten eingehalten werden müssen. Der Schwarze Peter hätte in Ankara gelegen.

So aber steht die EU als unzuverlässiger und wankelmütiger Partner da. Bei der letzten Erweiterungsrunde waren der Zeitpunkt und die Rahmenbedingungen dafür, dass Länder wie Polen oder Tschechien beitreten können, lange umstritten. Doch kein Mitgliedsland stellte in Frage, dass diese Länder zur Europäischen Union gehören.

Das ist im Falle Türkei ganz anders. Zwar traut sich keiner, endgültig Stopp zu sagen. Doch ein Herzensanliegen ist die Erweiterung Richtung Asien den Regierungschefs Europas ebenso wenig wie der europäischen Bevölkerung.

DANIELA WEINGÄRTNER