Trotz Deal: Türkei ist enttäuscht

In letzter Minute legt die EU einen neuen Verhandlungsrahmen vor. Doch die jüngsten Demütigungen haben Anti-EU-Bewegung und Nationalisten gestärkt

ISTANBUL taz ■ Kalkweiß im Gesicht, die Hände ans Rednerpult geklammert, hatte sich der türkische Ministerpräsident gestern Mittag der Öffentlichkeit gestellt. In einer von allen TV-Stationen übertragenen Rede, die er vor der Fraktion seiner regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hielt, machte Tayyip Erdogan klar, dass er keine Geduld mehr hat: „Wir werden an unserer bisherigen Haltung festhalten, die dem Interesse unseres Landes dient. Die Türkei hat in einem schwierigen Reformprozess alle Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt. Die EU ist dabei, ein historisches, zivilisatorisches Projekt für das Zusammenleben der Menschheit zu verspielen. Ich hoffe sehr, dass zuletzt doch noch die Vernunft siegt.“

Nur ein paar Stunden später war es so weit. Am späten Nachmittag einigten sich die EU-Staaten auf ein Mandat zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, schon Minuten später meldete die Agentur Reuters, die Türkei akzeptiere dieses Mandat. Kurze Zeit später allerdings wurde diese Meldung leicht relativiert: Es sei noch nicht klar, ob Außenminister Abdullah Gül nach Luxemburg fliege. Am Vormittag noch war sein Sprecher vor die Presse getreten und hatte erklärt, sein Minister habe die zahlreichen Änderungswünsche am Verhandlungsrahmen ausnahmslos abgelehnt.

Aus Sicht der meisten türkischen Bürger hatte die EU längst versagt. „Erst hat sich die EU zur Geisel der griechischen Zyprioten gemacht“, schrieb einer der glühendsten Verfechter des EU-Beitritts, Mehmet Ali Birand. „Jetzt lässt sie sich von Österreich auf der Nase herumtanzen.“ Der Ärger und die Enttäuschung über die demütigende Behandlung und die Aussicht, just am entscheidenden Tag doch noch den Stuhl vor die Tür gesetzt zu bekommen, waren enorm. Dabei wurde Österreich von den meisten Kommentatoren nur als ein Symptom einer großen EU-Krankheit wahrgenommen. Erst waren es die Griechen mit ihren Vorbehalten, dann die Franzosen, dann die Holländer und jetzt die Österreicher. Selbst jetzt, da die Verhandlungen im letzten Moment zustande kommen: Was folgt als nächste Demütigung?

„Der christliche Club schottet sich ab“, schrieb das Massenblatt Sabah. Auch innerhalb der türkischen Regierung scheint dieser Eindruck mittlerweile vorherrschend. Immer wieder hat Erdogan in den letzten Jahren die EU-Länder daran erinnert, wie wichtig eine türkische Mitgliedschaft ist, um aus dem globalen religiösen Lagerdenken herauszukommen. Immer wieder hat Ankara an die strategische Bedeutung einer türkischen EU-Mitgliedschaft erinnert.

Die Reaktionen aus der EU, wie zuletzt wieder der alpenländische Provinzchauvinismus, geben demonstrativ denjenigen Recht, die den Brückenschlag nicht wollen. Erstmals seit die rechtsextreme „Nationalistische Aktionspartei“ (MHP) 2002 aus dem Parlament geflogen war, war es der Partei an diesem Wochenende wieder gelungen, eine Massenkundgebung auf die Beine zu bringen. Zwischen 50.000 und 100.000 Nationalisten versammelten sich am Sonntag in Ankara, um die Regierung aufzufordern, die Zumutungen der EU nicht länger hinzunehmen. „Schluss mit der EU!“, skandierte die Menge, während Parteichef Bahceli den Abbruch der Verhandlungen forderte.

JÜRGEN GOTTSCHLICH