EU hebelt Österreich aus

Das Angebot der EU an die Türkei zu Beitrittsverhandlungen steht. Österreich nahm seine Vorbehalte zurück. Die Türkei beriet gestern noch ihre Haltung

VON RALF LEONHARD

Die 25 EU-Staaten haben sich gestern nach zähen Verhandlungen auf einen gemeinsamen Text für das Verhandlungsmandat mit der Türkei geeinigt. Österreich hat alle seine Vorbehalte aufgegeben“, sagte ein EU-Diplomat. Am Abend gab es noch keine endgültige Reaktion der Türkei.

Österreich wollte durchsetzen, dass in den so genannten Verhandlungsrahmen für die Beitrittsgespräche der Hinweis aufgenommen wird, dass ein türkischer Beitritt von der Aufnahmefähigkeit der EU abhänge. Wenn ein Beitritt nicht möglich sei, solle die Türkei in einem „alternativen Modell“ an die EU angebunden werden. Die interne Einigung der EU kam zu spät, um den für 17 Uhr geplanten Beginn der Verhandlungen zu ermöglichen. Und selbst wenn die Türkei das Verhandlungsangebot annimmt, kommt die Verständigung zu spät, um ein wirklicher Erfolg zu sein. Denn das lange Beharren Österreichs auf seiner Position hat auf allen Seiten viel Porzellan zerschlagen.

Der harte Kurs hat wenig Tradition in der Politik des Landes. Das neutrale Österreich hatte sich unter SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky (1970–1983) und auch später noch mit ÖVP-Außenminister Alois Mock eine respektierte Position als Dialogpartner und Vermittler zur islamischen Welt geschaffen. Auch Wolfgang Schüssel rückte zunächst von dieser Haltung nicht ab. Bis Mitte letzter Woche hatte Österreich auch die in den letzten Tagen bekämpfte EU-Position gegenüber der Türkei klaglos mitgetragen.

Dann wehte ein Hauch von 1683 durch Österreich. Damals wurde durch das Scheitern der zweiten Belagerung Wiens der Vormarsch der Osmanen gen Westeuropa gestoppt. Und jetzt betrug sich die christdemokratische ÖVP wieder wie ein Bollwerk des christlichen Abendlandes wider die Ungläubigen.

„Österreich wird seine Position weiter vertreten“, versicherte Europastaatssekretär Hans Winkler (ÖVP) zwischen Sekt und Sauerkraut noch gestern beim Empfang der Deutschen Botschaft zum Deutschen Nationalfeiertag. Man dürfe nicht nur die Bevölkerung Österreichs, sondern auch die der EU nicht arrogant missachten. In Österreich lehnen rund 70 Prozent der Befragten einen EU-Beitritt der Türkei ab. Dass der Verhandlungsprozess jedenfalls zehn Jahre, wahrscheinlich länger dauern wird, ist den meisten kaum bewusst. Es wird auch von den Regierenden wenig unternommen, um Aufklärung zu betreiben. Im Gegenteil, am Höhepunkt des Wahlkampfs in der Steiermark versuchte Schüssel noch, mit starken Tönen gegen die Türkei das bevorstehende Debakel seiner Parteifreunde zu verhindern. Nach der Wahl, so glaubten die Kolumnisten, würde man dem europäischen Druck nachgeben.

Doch Wolfgang Schüssel fiel das offenbar sehr schwer. Er ist inzwischen Gefangener seiner eigenen Rhetorik. Wie sollte er sich ohne Gesichtsverlust aus dem Schlamassel manövrieren? Wäre er stur geblieben, wäre Österreich in der EU isoliert und hätte sich die letzten Sympathien der islamischen Welt verscherzt. Mit dem Nachgeben hat er innenpolitischen Erklärungsbedarf. Denn Oppositionsführer Alfred Gusenbauer von der SPÖ, der sich als Leuchtturm der Aufklärung hätte profilieren können, hatte ebenfalls die populistische Karte gezückt. Er will die Regierung jetzt festnageln und Schüssel an dessen eigenen starken Worten messen.

Prominente Sozialdemokraten können sich über ihren Parteichef nur wundern. Wiens Bürgermeister Michael Häupl, der drei Wochen vor Gemeinderatswahlen die türkischstämmigen Wahlberechtigten nicht verprellen darf, versteht Gusenbauer nicht: „Meinungsverschiedenheiten gibt es in den besten Familien.“ Und EU-Abgeordneter Hannes Swoboda glaubt, dass es um die Stimmen der zahlreichen EU-Skeptiker gehe.

Viele glauben, Schüssel habe seine Zustimmung von der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit dem katholischen Kroatien abhängig machen wollen. Dafür hat Carla del Ponte mit ihrer Erklärung, Kroatien arbeite voll mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal zusammen, den Weg jetzt frei gemacht. Der SPÖ-Abgeordnete Caspar Einem meint aber, Schüssel habe nicht nur dem kroatischen Ministerpräsidenten Sanader einen Gefallen tun wollen, sondern angesichts zunehmender Instabilität seiner Regierung auf Neuwahlen gesetzt und sich deshalb als tapferer Krieger gegen die Türken präsentiert. mit AFP