Plädoyer fürs Däumchendrehen

PAUSE Phasen des Nichtstuns und des Abschaltens schützen uns vor geistiger Erschöpfung und Ausgebranntsein. Zugleich sind Momente der Muße aber auch notwendige Voraussetzung für geniale Einfälle und Erfindungen

■ Ulrich Schnabel: „Muße. Vom Glück des Nichtstuns“. Ca. 290 Seiten, Blessing Verlag (gebundene Ausgabe), 19,95 Euro (als Taschenbuch beim Pantheon Verlag 14,99 Euro)

■ Karlheinz A. Geißler: „Lob der Pause. Von der Vielfalt der Zeiten und der Poesie des Augenblicks“. oekom verlag, ca. 150 Seiten, 14,95 Euro

■ Martin Boroson: „One Moment Meditation. Stille in einer hektischen Welt“. J. Kamphausen Verlag, ca. 220 Seiten, 17,95 Euro

■ Sylvia Wetzel: „Einladung zur Muße“. Kreuz Verlag, ca. 160 Seiten, 8 Euro

■ Ernst Peter Fischer, Klaus Wiegandt (Hrsg.): „Dimensionen der Zeit. Die Entschleunigung unseres Lebens“. Fischer Taschenbuch Verlag, ca. 350 Seiten, 13,99 Euro

■ Seneca: „De brevitate vitae. Von der Kürze des Lebens“. Reclam, 95 Seiten, 3 Euro (ks)

VON KRISTINA SIMONS

„Zeit ist das, was die Uhr anzeigt“ – definierte einst Albert Einstein. Doch das eigene Zeitempfinden hat oft rein gar nichts damit zu tun, wie die Uhrzeiger stehen. „Das Rasen der Zeit ist seit dem 18. Jahrhundert ein Thema, und dies bleibt so bis heute“, sagt der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa. „In einer modernen Gesellschaft zu leben heißt, geradezu das Gefühl zu haben, dass die Zeit knapp wird.“ Das gilt im Privaten ebenso wie im Berufsleben.

In einer Gesundheitsstudie des Robert Koch Instituts (GEDA) von 2011 gaben 36 Prozent der Frauen und 44 Prozent der Männer an, häufig unter Termin- und Leistungsdruck arbeiten zu müssen. Laut DAK-Gesundheitsreport 2012 nimmt die Bedeutung derartiger psychosozialer Belastungen bei der Arbeit zu. Das wiederum führe immer öfter zu Arbeitsunfähigkeiten. Schnell noch die Mail beantworten, da klingelt schon wieder das Telefon und eine SMS kommt auch noch rein. Wir nutzen heute viele verschiedene Kommunikationswege. Das kann im Arbeitsalltag nicht nur Stress pur bedeuten, sondern führt mitunter dazu, dass Berufstätige keine klaren Prioritäten mehr setzen. Mobile Computer, Smartphones und soziale Netzwerke bieten uns heute immer mehr Möglichkeiten, mit immer mehr Menschen in Kontakt zu treten, immer mehr Wissen zu konsumieren und permanent erreichbar zu sein. Doch der Tag hat wie eh und je weiterhin nur 24 Stunden. Kein Wunder also, dass viele Menschen sich ständig gehetzt fühlen und Zeit als immer knapperes Gut empfinden.

Das Problem ist jedoch gar nicht so neu: Schon um das Jahr 49 n. Chr. herum stellte der altrömische Philosoph und Stoiker Seneca in seinem Büchlein „De brevitate vitae“ (Von der Kürze des Lebens) fest, dass viele Menschen unter Zeitknappheit leiden. Der Sinn des Lebens bestehe jedoch in mehr – philosophischer – Muße und nicht in mehr Arbeit und hektischer Betriebsamkeit. Wer das Leben richtig zu gestalten wisse, für den sei es keineswegs zu kurz. Nicht nur Philosophen, auch Psychologen und Gehirnforscher haben längst erkannt und untermauern es mit Studien, dass Phasen des Nichtstuns, der Gelassenheit und des Abschaltens uns vor geistiger Erschöpfung und Ausgebranntsein schützen und oftmals der Nährboden für neue Ideen sind. Wer kennt das nicht: Man grübelt und grübelt über eine Sache und findet einfach nicht den richtigen Dreh. Doch am nächsten Morgen unter der Dusche kommt die zündende Idee fast wie von alleine. Auch Isaac Newton hatte den zündenden Einfall für seine Gravitationslehre, als er in seinem Obstgarten versonnen einen Apfel betrachtete.

Viele geniale Einfälle und Erfindungen seien gerade in Phasen geistigen Leerlaufs entstanden, sagt der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel in seinem äußerst unterhaltsamen Buch „Muße: Vom Glück des Nichtstuns“. Es ist geradezu ein Plädoyer fürs Däumchendrehen und An-die-Wand-Starren. Phasen absichtslosen Nichtstuns würden nicht nur die Regeneration fördern und das Gedächtnis stärken, so Schnabel, sondern seien auch eine notwendige Voraussetzung für Einfallsreichtum und Kreativität.

Die Schnellen sind nicht schneller am Ziel, sondern rascher am Ende

Arbeitsdruck und der Zwang zur permanenten Kommunikation würden uns jedoch kaum mehr zur Ruhe kommen lassen. „Muße ist zu einer bedrohten Ressource geworden“, sagt Schnabel und meint damit nicht das erschöpfte Abhängen vor dem Fernseher. Muße bezeichne vielmehr jene Stunden, „in denen wir ganz das Gefühl haben, Herr über unsere eigene Zeit zu sein“. Momente der Muße seien nicht der modernen Verwertungslogik unterworfen und könnten einem in einem inspirierenden Gespräch ebenso begegnen wie beim Wandern oder Musizieren und selbst beim Arbeiten.

Auch der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler ruft dazu auf, Langsamkeit, Wiederholung und Warten schätzen zu lernen. Es seien die Zeiten des Dazwischen, die Pausen, Aus- und Halbzeiten, die für den Rhythmus im Leben sorgen und damit dem Leben Lebendigkeit verleihen würden. Erst sie würden uns die Freiräume schaffen, über Vergangenes und Zukünftiges nachzudenken. „Das enorme Prozesstempo der uns umgebenden elektronischen Zaubergeräte trennt uns vom Puls unserer eigenen Natur und lässt uns die Rhythmen der äußeren vergessen“, sagt Geißler. „Keine Lücken mehr, keine Zeit für Nachdenklichkeit, für kontemplative Beschaulichkeit, für Zweifel und keine mehr für skeptische Fragen nach dem ‚Warum‘ und ‚Wohin‘.“ Doch die Schnellen seien nicht schneller am Ziel, sondern rascher am Ende. Als Gegenentwurf setzt Geißler dabei aufs ‚Enthetzen‘, also den Verzicht auf überflüssiges Tempo. „Es geht darum, allem Geschehen, allen Dingen, allen Aufgaben und allem Lebendigen eine jeweils angemessene Geschwindigkeit zu geben.“

Was also tun, wenn man mit der Arbeit nicht hinterherkommt, sich die unbeantworteten Mails im Posteingang anhäufen und man sich eigentlich noch auf das Meeting vorbereiten will? Durchatmen, vielleicht mal eine Runde an der frischen Luft drehen und den Blick in die Ferne schweifen lassen. Hilfreich kann es auch sein, in einer To-do-Liste festzuhalten, was wirklich wichtig ist und unbedingt erledigt werden muss und was getrost warten oder gar ungetan bleiben kann.