LeserInnenbriefe
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Was will die EU-Linke?

betr.: Gysi ist linker Chef-Europäer“, taz vom 19. 12. 16

67,6 Prozent sind ein gutes Ergebnis für Gregor Gysi, weil es eine deutliche Mehrheit ist und nicht nahe 100 Prozent. Es weckt keine Assoziationen zu klassischen SED-Wahlergebnissen, wie manche (auch in anderen Parteien) es neuerdings anscheinend wieder für wünschenswert halten, nach dem Motto „die Abgeordneten haben zu spuren und sollten nicht mit eigenen Meinungen anecken“. Das Einzige, was auch bei der europäischen Linken stutzig macht, ist die Tatsache, dass es keine Gegenkandidaten zu Gregor Gysi gab. Das ist einigermaßen erstaunlich in einer Fraktion, die sich bisher immer noch nicht auf einen gemeinsamen politischen Nenner bei den aktuell brennendsten Fragen verständigen konnte.

Was die europäische (und die deutsche) Linke in der aktuellen Situation konkret will, das dürfte nicht nur mir ein Rätsel bleiben. Vielen Wählern, für die eine Wahl der Linken kein grundsätzliches ideologisches Problem ist, geht es vermutlich nicht so sehr viel anders als mir. Man ahnt als Wähler nur, was die Linke nicht will. Ob das reicht? Mit allgemein gehaltenen Floskeln wie „an der Linken darf die EU auf keinen Fall scheitern“ oder wiederholter Kritik an der sogenannten Austeritätspolitik ruft man keine Identifikationsexzesse bei Wählern hervor. Das ist nicht Fisch und ist nicht Fleisch.

Wenn es der Linken reicht, sich partei- und fraktionsintern bis zum Sanktnimmerleinstag über den richtigen Weg zu streiten, das heißt sich weiterhin nur mit sich selbst zu beschäftigen, dann werden sie damit leben müssen, irgendwann nicht mehr gewählt zu werden, um dann ausgiebig im eigenen Saft schmoren zu können. EWALD BECK, Bad Homburg

Ein Mehr an Genauigkeit

betr.: „Der Kulturkampf hat die Schulen erreicht“, „Vertrauen gibt es nicht umsonst“, taz vom 20. 12. 16

Der taz ein großes Lob für ihre Bemühungen, mit dem Schwerpunkt Türkei zur Versachlichung der Diskussion um „Weihnachten an der Istanbul Lisesi“ beizutragen.

Zum einen lenkt Jürgen Gottschlichs Beitrag das Augenmerk darauf, dass die Gefahren für die Freiheit der Lehre in Richtung auf eine politische Instrumentalisierung und Gleichschaltung der Schulen in der Türkei viel umfassendere und tiefergreifende sind, als die diesjährige Weihnachtsepisode erahnen lässt. Es ist dies eines der seltenen Beispiele, das die Vorteile des deutschen, föderalen Schulsystems aus der Vergessenheit ins Bewusstsein zurückruft. Die sorgfältige Lektüre und Analyse des Briefes, den die türkische Schulleitung am 13. 12. an die Leitung der deutschen Abteilung der Istanbul Lisesi geschrieben hat, zeichnet aber ein ganz anderes Bild, als Peter Weissenburger es in seinem Kommentar vermittelt, wenn er unterstellt, dass ein „übereifriger christianophober Schulleiter“ ihn zu verantworten hätte. Vielmehr spricht aus jeder Zeile dieses, mit großer diplomatischer Feinheit verfassten Briefes die Sorge, dass im gegebenen, schwierigen Umfeld mit weihnachtlichem Aktionismus durch die deutsche Abteilung die (noch) bestehende Fortschrittlichkeit und Säkularität der Schule zusätzlichem Druck ausgesetzt werden könnte. Man vergesse nicht, dass es sich nicht um eine deutsche Schule handelt, wie vielfach der Eindruck vermittelt werden wollte, sondern um eine türkische (mit deutscher Förderung, an der man, wie es sich für eine säkulare Schule gehört, um die Religionszugehörigkeit der Schüler sich hoffentlich wenig bekümmert). Wenn nun im Unterricht das Weihnachtsfest im Unterricht „erarbeitet sowie gesungen“ werden soll, verschwimmt ohne Frage die Grenze zwischen Vermittlung abendländischer Bräuche und Missionierung, sobald nicht nur das Tannengrün, sondern auch der „Herr der Herrlichkeit“ gepriesen wird.

Das Rundschreiben der deutschen Abteilung an die Lehrer nimmt auf all diese Befindlichkeiten nicht die geringste Rücksicht und wirft mit seiner wahrheitsverfälschenden Ruppigkeit die Frage auf, ob das Verhältnis zur Schulleitung schon zu weit zerrüttet ist, um noch an eine gedeihliche Zukunft in dieser personellen Konstellation glauben zu können.

Wie Peter Weissenburger nach dieser Sachlage zu seiner Behauptung kommt, die dpa habe „allem Anschein nach … sauber gearbeitet“, entzieht sich meinem Verständnis. Hätte sie sauber gearbeitet, hätte doch eine Meldung herausgegeben werden müssen, auf deren Grundlage eine Berichterstattung, wie sie dann durch alle Medien erfolgt ist, gar nicht denkbar gewesen wäre.

Wenn impliziert wird, dass der dpa vom Grunde her Vertrauen geschenkt werden müsse, weil man sonst das böse Spiel der Lügenpresse-Rufer befördere, ist auch das leider nicht ganz richtig. Mit einiger Aufmerksamkeit lässt sich nämlich durchaus belegen, dass die Meldung über die Vorfälle an der Istanbuls Lisesi durchaus kein Einzelfall ist, sondern sich gerade dort, wo es sich nicht um die Hauptschlachtfelder handelt, sondern um kleine Themen, die man meint, im Vorbeigehen erledigen zu können, sehr häufig Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten einschleichen.

Hier, wie Ruprecht Polenz, den Finger in die offene Wunde zu legen, entspricht darum uneingeschränkt dem Engagement eines Bürgers, der sich demokratischer und humanistischer Grundsätze verpflichtet fühlt. Den Presseagenturen, die angesichts der Lügenpresse-Rufe von rechts und der Polemiken von links (obwohl, dort steht ja auch ein Ruprecht Polenz nicht) gar nicht mehr wissen, wohin sie sich wenden sollen, sei nur geraten, sich tiefer über ihren jeweiligen Untersuchungsgegenstand zu beugen. Was sie zur Bewahrung der Demokratie beizutragen haben, ist nicht in erster Linie ein Mehr an Links oder ein Mehr an Rechts, sondern ein Mehr an Genauigkeit und Zuverlässigkeit. Der Rest wird sich schon ergeben.

TORSTEN STEINBERG, Porta Westfalica