Merkel, der Tod und ein Arschloch auf Rädern

Der etwas andere, ganz persönliche Jahresrückblick Meine drei Lieblingskollisionen 2016. Ohne jede Moral von der Geschicht’

Einigermaßen unbeschadet die Kollisionen des Jahres überstehen, ist die Devise nicht nur für Dummies Foto: ap

Und wieder ist ein Jahr geschafft, beinahe aber wurde mein persönlicher Planet anno 2016 von drei Karambolagen aus der Bahn geworfen. Zum Glück handelte es sich dabei nur um Fastzusammenstöße – allerdings waren immerhin die Kanzlerin, der Sensenmann und ein Arschloch aus dem Brandenburger Speckmadengürtel involviert.

Im Frühjahr stand ich gerade an der Fleischtheke in den Galeries Lafayette. Als alter Bonvivant kaufe ich in dem französischen Kaufhaus donnerstags gern fürs Wochenende ein. Meist verlasse ich dann mein geliebtes Gourmet-Entenhausen mit Rilettes de canard oder Mousse de foie de canard au porto und anderen Bürzeleien. An dem Tag hatte ich gerade die feine Ware entgegengenommen und mich zum Gehen abgewandt, als ich um ein Haar Angela Merkel umrammte. Plötzlich stand die Bundeskanzlerin in einem ihrer bonbonfarbenen Blazer vor mir, hinter sich zwei Schränke mit Knopf im Ohr. Ich muss geguckt haben wie ein Mondkalb, ihr Blick war leicht spöttisch und auch ein wenig gelangweilt, weil sie diesen Schreckmoment offenbar gut kennt, wenn für überraschte Zeitgenossen die Fernsehwirklichkeit ins reale Leben einbricht. Ich stammelte bloß „O, o …“ oder Ähnliches und ließ die Kanzlerin vorbei an die Fleischtöpfe.

Zufälligerweise hatte ich an dem Tag meine angeheiratete amerikanische Nichte im Schlepptau, die reagierte, wie es nur Amerikaner können: weltfremd und -offen zugleich. Denn erst hatte sie „Moerkel“ glatt übersehen, und als ihr bewusst wurde, wer da unseren Einkaufsweg kreuzte, flitzte sie sofort auf sie zu, um ein Selfie zu knipsen, was die beiden breiten Bodyguards jedoch zu verhindern wussten: Die Kanzlerin sei privat unterwegs. Dafür sprachen auch die Steaks, die Merkel für ihren Mann und sich auswählte. Nicht auszudenken, dass ich den Kochabend im Hause Sauer verhindert und womöglich den Lauf der Welt verändert hätte, wenn ich die mächtigste Frau des Universums versehentlich beim Einkaufen über den Haufen gerannt hätte.

Im Sommer radelte ich, für den es immer noch sehr seltsam ist, das Wort „radeln“ zu verwenden, weil ich ein halbes Leben lang kein Rad besaß und immer erklärt hatte, Fahrräder seien nur etwas für Studenten und Holländer, ich also fuhr frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit über eine Kreuzung, als mir ein schlingernder Wagen entgegenkam und mich fast schnitt, bevor er mit einiger Wucht in die Leitplanke am Straßenrand krachte. Ich blickte über die Schulter und merkte sofort, dass etwas mit dem Fahrer nicht stimmte, drehte kurz­entschlossen um, stieg ab und riss die Autotür auf. Hinterm Steuer verkrampfte ein mittelalter Mann mit dem grausten Gesicht, das ich jemals gesehen hatte: ein Herzinfarkt.

Einen anderen Fahrradfahrer, der in dem Moment hielt, bat ich, die Feuerwehr anzurufen, ich wählte 110. Der graue Mann starb, und man konnte nichts tun, die Notrufstelle empfahl jedenfalls zu warten. Vermutlich befürchtete man, dass ich Laie am Unfallort mehr Schaden anrichtete, als zu nützen. Erstaunlich aber war die Geschwindigkeit, mit der die Einsatzkräfte entgegen allen verbreiteten Erzählungen eintrafen. Es dauerte höchstens fünf Minuten, dann hielten zwei Kranken- und mehrere Streifenwagen mit quietschenden Reifen. Sofort leiteten die Notärzte den Wiederbelebungsversuch ein, wechselten sich immer wieder ab und bearbeiteten den zitternden Körper erst eine halbe Stunde auf der Straße, dann eine halbe Stunde im Rettungswagen, bevor er langsam davongefahren wurde, während ich die ganze quälende Zeit danebenstand und mich schließlich fragte, ob die professionelle Langsamkeit nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Ich sollte nie wieder etwas von dem grauen Mann in seiner grauen Kleidung und dem grauen Kleinwagen erfahren, weiß also nicht, ob er gestorben ist oder ich ihm durch mein, wie es in der sachlich-neutralen Nachrichtensprache stets heißt, entschlossenes Handeln das Leben gerettet habe. Es war nicht meine erste Begegnung mit dem hässlichen Sensenmann, aber es bleibt die Erkenntnis: Nichts ist so ungewiss wie der Tod, allenfalls noch das Leben.

Im Herbst saß ich mit Zeichner ©Tom im Taxi, wir verließen gerade den Idiotenbezirk Mitte. In Berlins von sich selbst besoffenem Möchtegern-Zentrum ist man sonst nur als Touristenführer für auswärtige Besucher unterwegs oder sitzt bei irgendwelchen Essen, die jemand nach Mitte verlegt hat, weil solche Termine angeblich dort stattfinden müssen, wo es doch anderswo in Berlin weitaus angenehmere Lokalitäten gibt. Auf dem Weg ins heimatliche Schöneberg schlug mein Kopf plötzlich mit Wucht gegen die Nackenstütze des Vordersitzes. Der Taxifahrer musste abrupt bremsen, weil uns ein Brandenburger Arschloch in seinem Panzer geschnitten hatte.

Genau so jemand geht in Mitte aus und fährt nun zurück in sein Speckreich, um unterwegs seinen nächtlichen Spaß zu haben: An der nächsten Ampel stieg der selbsternannte König der Hauptstraße wieder ohne Vorwarnung vor uns schlagartig in die Eisen. Was jetzt folgte, wird in die Geschichte des Berliner Straßenverkehrskampfs als „Schöneberger Interruptus“ eingehen, kann jedoch hier von mir aus ermittlungstaktischen Gründen nicht näher ausgeführt werden, um kein Täterwissen preiszugeben, wie es immer in einschlägigen Polizeiberichten heißt. Seither nennt mich ©Tom nur „Hulk“, ich selbst aber habe mir den Ehrentitel „Ray Donovan von Friedenau“ zugelegt.

„Not in my hood!“, schüttelte ich dem empörten Fahrer gut gelaunt die Fäuste hinterher, während sich der 100.000-Euro-Wagen mit einem 1.000-Euro-Schaden ins Brandenburger Gauland trollte. Der würde so schnell hier nicht wieder durchkommen.

„Not in my hood!“,schüttelte ich demempörten Fahrergut gelaunt dieFäuste hinterher

Zuletzt hatte ich ein ähnlich wohltuendes Verbrechen ungefähr im Jahr 1979 vor dem Ratinger Hof in Düsseldorf begangen. Punk never dies! Der anschließende Absacker im F-Keller rundete dann einen doch noch gelungenen Abend ab. Der zumindest eine Selbsterkenntnis hervorbrachte: Auch ein intellektueller Straßenköter bleibt stets ein Straßenköter.

Und was ist die Moral von der Geschicht’? Die Frage stellt sich nicht. Alle drei Schnurren sind viel zu privat und anekdotisch, um einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu besitzen. Das Fazit lautet ebenso schlicht wie sinatra-schmalzig: „It was a very good year.“ Und in dem Sinne dürfen sich alle Arschlöcher dieser Welt auch 2017 auf eine ­Karambolage mit mir freuen.

Michael Ringel