Was einen beschenkt und bedroht

LyrikNennen wir es Naturlyrik: In ihrem Band „halb taube halb pfau“ fordert Maren Kames Leserinnen und Leser dissidentisch zur Mitarbeit auf

Maren Kames 2013, als sie sowohl den Lyrik- als auch den Publikumspreis beim Open Mike erhielt Foto: gezett

von Hanna Engelmeier

Maren Kames’ Debüt „halb taube halb pfau“ ist ein aufdringlicher Gedichtband. Verse stehen offensiv vereinzelt auf Satzseiten, scheinbar triviale Sätze werden durch fehlenden Kontext mit einer Bedeutung aufgeladen, die im ersten Durchgang unklar bleiben muss. Das Verfahren des Zeilensprungs wird durch den Seitensprung erweitert, Sätze fangen an, gehen auf den nächsten Seiten weiter, führen die blätternden Hände spazieren. Das Buch ist aufdringlich, weil man es nicht in kleinen Dosen lesen kann, dann erschiene einem alles nur banal; es empfiehlt sich andererseits aber auch, es mindestens einmal nur quer zu lesen, um zu sehen, wie verstreute Wörter miteinander in Zusammenhang gebracht werden, und um zu verstehen, wie die Form eines Gedichts durch Binnenreime in Versen erzeugt wird, die doch eigentlich wie harmlose Prosa erscheinen.

Wer weder alles liest noch blättert, wird verpassen, wie Landschaft in der Erzählstimme zu Sprache wird, die auf den Seiten des Buchs dann wieder zu Landschaft verwandelt wird. Der Satz des Textes arbeitet mit großen Weißräumen, Bleiwüsten und kleinen Textinseln; Tiere sind auch da, Taube und Pfau aus dem Titel bekommen Gesellschaft von Schwänen und Tapiren, Seekühen, Haubentauchern, Affen und immer wieder Wölfen. Merkwürdige Begegnungen, nicht in Innen- oder Seelenräumen, sondern in Sprache: Es ist leicht zu vergessen, dass in Lyrik Welten gebaut werden können, hier ist die Erinnerung daran. 2013 hat Maren Kames für diese Leistung sowohl den Lyrik- als auch den Publikumspreis beim Open Mike erhalten.

„Ich mache eine Ausstellung. Ich biete das alles an hier“, heißt es an einer Stelle, an anderer wiederum spricht ein „C“ (das sich von einem „A“ und einem „B“, die ebenfalls sprechen dürfen, in unklarer Weise unterscheidet): „Ich möchte etwas, das unter Einsatz aller Register zustande kommt.“ Ausgestellt und angeboten wird eine Erfahrung mit einem Buch, das seinen eigenen Soundtrack, seine eigene Dichterlesung und Vertonung bei der Auslieferung schon mitbringt.

Dass man sich mit „halb taube halb pfau“ nicht einfach ein Buch, sondern ein sogenanntes Objekt oder gar das, was Galeristen eine „Arbeit“ nennen, ins Haus holt, zeigt sich zuerst in der Buchgestaltung. Sie wird von dem Gestalter und Typografen Erik Spiekermann und seinem Kollegen Ferdinand Ulrich verantwortet; Spiekermann ist allen Berlinerinnen und Berlinern zumindest über seine Entwürfe des Fahrgastinformationssystems bekannt, von ihm stammen aber auch einige klassisch gewordene Schrifttypen wie die FF Real, eine serifenlose und klare Schrift, in der klein und fest in entschiedenem Blocksatz auch „halb taube halb pfau“ gesetzt ist. Der silberne Moiré-Überzug des Buchdeckels schimmert wie die Maserung einer Holzplanke, das Vorsatzblatt ist ausklappbar wie ein Umschlag, das Papier ist mit 115 g/m² fest genug, um der Aufforderung zum Blättern standzuhalten, die das Buch auf jeder Seite ausspricht.

Richtet man auf einzelne Buchseiten die Kamera eines Geräts, das QR-Codes lesen kann, öffnen sich elf sogenannte Takes und zwei Musikvideos. In den Takes hört man die Autorin selbst ihre Gedichte lesen oder aber eine andere Sprecherin, die teils in erhöhter Geschwindigkeit dazwischenfunkt. Die Stimmen stören sich gegenseitig, sie ergänzen sich aber auch, so wie auch die QR-Codes selbst den Text ergänzen und stören. Es entsteht Klang aus den Codes, aus der Schrift, und gleichzeitig kommt aus der Schrift wieder die Stimme der Autorin, die einen vom Lesen ihres eigenen Buchs ablenkt – oder einen auf besondere Weise wieder zu ihm hinführt.

Einige Takes beinhalten Lesungen aus Texten, die aus geografischen Lehrbüchern entnommen scheinen und vom Auseinanderdriften der Kontinente berichten oder wie in Take vier erläutern, was ein Bergsturz ist: Durch den Zusammenbruch von Gesteinsformationen können, so die freundliche Männerstimme, „reizvolle Landschaften entstehen“. Kames’ Stimme darüber, mehrfach, in unterschiedlichen Entschlossenheits- und Trotzgraden: „Dann geh ich eben zurück.“ Und: „Ich höre Tau“; und: „ich höre Raben“.

Das sind Teile eines Textgerölls, das ein Bergsturz ihrer Dichtung erst viel später im Buch zu Papier bringt. Wobei dieses „später“ ja eben von der Leserichtung abhängt, die keineswegs festgelegt ist: Seitenzahlen fehlen, und ob man zuerst Take acht oder Take eins anhört, ob man sich zuerst den kürzesten Textpartikeln oder der längsten Passage widmet, steht einem frei: Dadurch ändert sich die Konfiguration der Erfahrung, die man mit Kames’ Texten machen kann, nicht aber, dass man sich zwischen den vielen Schichten aus Schrift, Ton, Bild, Schriftbild selbst zurechtfinden muss.

Finden wird man dabei vor allem Wege, um sich mit Erinnerungen auseinanderzusetzen, die die eigene Konfiguration für den Umgang mit realen und intellektuellen Landschaften bilden. Die längste Passage des Bands beginnt so: „Hier! Haben Sie Kindheit. Haben Sie Wiese, Spätsommer, 24°, oben auf Heuballen sitzen und niesen.“ Im Folgenden leuchtet eine ganze Kindheit in Blitzbildern auf, das Glück („Haben sie Hände im Nacken beim Fahrradfahren, Rollschuhfahren, Bobby-Car, Skateboard“) genau so scharf gestochen wie das Unglück, verstoßen zu werden, aus der Kindheit, von den Eltern: „Geh weg, und: Das ist nichts wert, und: Unter diesem Dach wohnt einer zu viel, einer von uns muss gehen.“

Zuletzt war in der Literaturkritik ebenso wie in der Literaturwissenschaft viel darüber zu lesen und zu hören, dass es eine neue Welle des Realismus gebe, der Mammuterzählungen, Romane fett und schwer wie Blauwale, gern geschrieben von Männern, die an ihren Egos ebenso zu knabbern haben wie daran, die Tinte nicht halten beziehungsweise die Finger nicht von der Tastatur nehmen zu können. Verschiedene Gründe für die Beliebtheit dieser Art von Text sind im Angebot, Parallelen zu Konkurrenzmedien wie Fernsehserien werden gezogen und historische Vorläufer in den Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts identifiziert, Motive für die Flucht aus dem Alltag der Gegenwart liegen auf der Hand.

Auf der Hand liegt aber auch, sich genau auf diese Befunde zu stützen und zu stürzen, um etwas darüber zu sagen, was Literatur, Dichtung gar, heute kann und heute versucht. Lyrik hat es schon allein deshalb schwerer, weil sie sich vor allem damit beschäftigt, Erfahrung zu verkleinern und zu verdichten, und zwar derart, dass es schwer wird nachzuerzählen, was in ihr geschieht. Einfacher ist zu benennen, was man bei ihrer Lektüre empfindet oder welche Gefühle gemeint sein könnten.

Dass man sich mit „halb taube halb pfau“ nicht einfach ein Buch, sondern ein sogenanntes Objekt ins Haus holt, zeigt sich zuerst in der Buchgestaltung

Und trotzdem ist da eine vollständige Welt, nur wird sie in einem Modus beschrieben, der momentan vielleicht derjenige der größtmöglichen Dissidenz ist, weil er sich dem unmittelbaren Zugriff verweigert: Sie fordert einen zur Mitarbeit auf. Mit einem recht einfachen Mittel wie dem des Einbaus von QR-Codes wird das in „halb taube halb pfau“ plastisch: Man wird zum Handeln an der Lyrik gezwungen, wenn man alles (was auch immer das wäre) über sie erfahren möchte.

Kames’ „C“ sagt an anderer Stelle: „Ich möchte etwas, das unter Einsatz des ganzen Körpers entsteht.“ Diesen Einsatz hat sie selbst geleistet, ihre Leserinnen und Leser müssen ihn aber auch leisten, wenn sie durch das Buch blättern und bereit sind, sich von dieser Naturlyrik treffen zu lassen.

Naturlyrik ist eine naturgemäß ungenaue Beschreibung, weil das große Neue, das Maren Kames in ihrem Band geschaffen hat, noch zu eigentümlich ist, um unter einen Begriff zu passen. Naturlyrik ist zugleich eine sehr genaue Beschreibung, weil „Natur“ schon immer als ein Begriff in Stellung gebracht wurde, in dem man wie in einen besonders großen Container all das stecken konnte, was einen beschenkt und bedroht, was schön und was grauenerregend ist.

Naturlyrik heißt hier: Maren Kames kann uns ziemlich konkrete Landschaften und Lebewesen anbieten. In Take eins hört man nach einigen Sekunden ihre Stimme wie hinter vielen Vorhängen aus Ton hindurch, langsam wird sie lauter, die Stimme ist hell, weil sie jung ist und sie klingt also nach Zukunft.

„Nimm“, sagt sie, immer wieder: „nimm“. Dankeschön, das ist großartig.

Maren Kames: „halb taube halb pfau“. Secession Verlag, Zürich/Berlin 2016, 150 Seiten, 35 Euro