AUF FRANKREICHS STRASSEN ARTIKULIERT SICH DIE LINKE MEHRHEIT IM LAND
: Votum gegen Pariser Regierungspolitik

Den Mehrheitswillen eines Volkes kann man eine Weile ignorieren. Aber irgendwann ist der Bogen überspannt. Dann bahnt sich dieser Wille andere Wege als die Wahlurne. In Frankreich ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Zeitpunkt näher rückt. Dafür spricht der Erfolg des gestrigen Streiks.

Die Erklärung muss man in Wahlereignissen suchen, von denen manche schon eine Weile zurückliegen. Es begann am 21. April 2002, als die Franzosen bei Präsidentschaftswahlen massiv für Politiker der radikalen Linken gestimmt und zugleich dem Kandidaten der offiziellen Sozialdemokratie ein miserables Ergebnis verschafft haben. Damit erteilten sie Ex-Regierungschef Lionel Jospin die Quittung für seine halbherzige Sozialpolitik und seine extremen Privatisierungen.

Es gehört zu den französischen Paradoxa, dass ausgerechnet jener Linksdrall einem Rechtsextremen den Weg in den zweiten Wahldurchgang ebnete und damit dem konservativen Jacques Chirac zur Wiederwahl mit triumphalen 82 Prozent in das Spitzenamt der Republik verhalf. Die Franzosen blieben ihrem Votum dennoch treu. Vergangenes Jahr schickten sie sowohl ins Europaparlament als auch in ihre Regionalparlamente mehrheitlich Politiker der Linken. Beim EU-Referendum im Mai machten sie erneut deutlich, dass sie keine Unterwerfung der Politik unter das Marktdiktat wollen. Trotzdem erlebt das Land seit 2002 die härteste rechte Regierungspolitik seit Jahrzehnten: Verlängerung der Lebensarbeitszeit, tiefe Einschnitte in die Sozialversicherung, Aushöhlung des Kündigungsschutzes und Senkung des Spitzensteuersatzes. Das Ganze bei gleich bleibend hoher Arbeitslosigkeit, sinkender Kaufkraft und Rekordgewinnen der großen Konzerne.

Die Regierungsumbildungen und das soziale Wortgeklingel der rechten Spitzenpolitiker in Paris können nicht verstecken, dass Regierung und Staatspräsident nichts unternommen haben, um den Willen des Volkes in Politik umzusetzen. Franzosen sind zwar risikofreudiger und eher bereit, in einen Streik zu treten, als viele ihrer europäischen Nachbarn. Dennoch sollte man eines nicht vergessen: Die Ignorierung des Wählerwillens rächt sich immer. Früher oder später. DOROTHEA HAHN