In Frankreich streikt der öffentliche Dienst

Im ganzen Land gehen über eine Million Menschen auf die Straße. Alle fünf Gewerkschaften haben zu der Arbeitsniederlegung aufgerufen. Im Zentrum der Kritik steht ein neuer Arbeitsvertrag, den Regierungschef de Villepin per Dekret durchgesetzt hat

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Der Tag begann in Marseille. Rund 100.000 Menschen zogen gestern am Vormittag durch die Straßen der Hafenstadt. Sie demonstrierten für mehr Kaufkraft und mehr Arbeitsplätze, sowie gegen Wegwerfarbeitsverträge und gegen den Ausverkauf der Staatsbetriebe. Die ersten Reihen gehörten den Seeleuten der staatlichen Fährgesellschaft SNCM. Sie protestieren seit einer Woche gegen den von der Regierung gewollten Verkauf ihres Unternehmens. Ihnen folgten Beschäftigte des Nestlé-Werkes von Marseille. Sie streiken seit Monaten gegen die Schließung ihres Werkes und die Verlagerung der Produktion.

Auch an den 149 anderen Orten, wo gestern in Frankreich Streiks und Demonstrationen stattfanden, war der gewerkschaftliche Aktionstag ein Erfolg. An Orten mit besonderen sozialen Problemen wie Massenentlassungen bei dem US-Konzern Hewlett-Packard sogar ein Riesenerfolg. Bereits vor Mittag meldeten alle fünf Gewerkschaften, die den Aktionstag dieses Mal in seltener Einmütigkeit organisiert hatten, dass die erwartete eine Million TeilnehmerInnen überschritten sei. „Wir werden keine zwei Wochen auf die Antwort der Regierung warten“, sagte FO-Chef Mailly schon am Vormittag. Zu dem Zeitpunkt hatte sich der zentrale Demonstrationszug in Paris noch gar nicht in Bewegung gesetzt.

Die Beteiligung war überall höher, als bei dem letzten gewerkschaftlichen Aktionstag am 10. März. Damals marschierten die Gewerkschaften getrennt. Die Debatte über die EU-Verfassung hatte sie in feindliche Lager gespalten. Genauso wie die linken Parteien. Gestern traten sie erstmals alle wieder zusammen an. In Paris boykottierten die OppositionspolitikerInnen eine Debatte in der Nationalversammlung, um auf der Straße dabei sein zu können. Allerdings trauten sie sich nicht an die Spitzen der Demonstrationen, sondern reihten sich weiter hinten ein. Einzelne VertreterInnen der rechten Parlamentsmehrheit hingegen hatten am Vormittag in Paris die Métro-Bahnhöfe kontrolliert. Sie wollten wissen, ob der von ihnen mit der städtischen Bahngesellschaft ausgehandelte „Minimaldienst“ gewährleistet war.

Sämtliche Verkehrsmittel – vom Bus über die Bahn bis zum Flugzeug – aber auch Schulen, Krankenhäuser, Postämter, Radio- und TV-Sender waren gestern bestreikt. Auch der Hafen von Marseille stand weiterhin still. Wegen des Konfliktes bei der Fährgesellschaft SNCM und wegen der von Dockern beobachteten „schleichenden Privatisierung“ des autonomen Hafens (PAM). Auch außerhalb des öffentlichen Dienstes gab es stellenweise Streiks.

Die französischen Medien – das Fernsehen zuvorderst – konzentrierten sich bei ihrer Berichterstattung auf die „Belästigung“ für die BürgerInnen. Die Betroffenen selbst hingegen zeigten viel Sympathie für den Streik. Laut einer gestern veröffentlichten Umfrage des Instituts BVA finden ihn 70 Prozent der Franzosen richtig.

Im Mittelpunkt der Mobilisierung stand der neue Arbeitsvertrag, den Regierungschef Dominique de Villepin in der Sommerpause per Dekret und ohne parlamentarische Debatte und Abstimmung durchgesetzt hatte. Dieser Vertrag verlängert die Probezeit von zuvor sechs auf jetzt 24 Monate. Er gilt für alle Neueinstellungen in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten – und damit für die Mehrheit aller Beschäftigten in Frankreich. Erstmals waren auch Gruppen von Praktikanten dabei. In Paris versteckten manche ihre Gesichter hinter weißen Masken. Eine junge Frau: „Wir sind die neuen Beschäftigten. Unsichtbar. Rechtlos. Unbezahlt. Ideal für die Patrons.“