Jubel und Angst vor neuer Krise

ISTANBUL taz ■ „Ein riesiger Schritt für die Türkei, ein großer Schritt für Europa und ein Erfolg für das ganze türkische Volk.“ Die Erleichterung und auch der Stolz auf das Erreichte stehen dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan am Morgen nach der langen Nacht von Luxemburg deutlich im Gesicht geschrieben. In einer Rede vor seiner Fraktion hebt er noch einmal hervor, was er in den letzten Jahren immer wieder gesagt hat: Der Beginn von Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU sei „eine gemeinsame Entscheidung zu Gunsten der Verbindung der Kulturen“.

Für die türkischen Massenblätter sieht nach den bösen Schlagzeilen über das Luxemburger Hickhack vom Wochenende die Welt wieder ganz anders aus. Die Schlagzeilen am Dienstagmorgen sind der reinste Jubel: „Guten Tag, Europa!“ oder „Nach dem Wiener Walzer geht die Türkei friedlich durch das Tor nach Europa.“

Doch der schnelle Wechsel der Schlagzeilen von großer Wut zu großem Jubel wird in der Bevölkerung so nicht mitvollzogen. Die Euphorie ist verflogen und hat entweder tiefer Enttäuschung, im besten Falle jedoch einer neuen Nüchternheit Platz gemacht.

„Für uns persönlich ändert sich dadurch doch sowieso nichts“, sagen dieselben Leute heute, die vor ein paar Jahren noch geglaubt hatten, mit einer EU-Annäherung würde sich auch ihre persönliche wirtschaftliche Situation schlagartig verbessern. Auf der Straße dominiert eine nüchterne Stimmung: „Die nächste Krise kommt bestimmt.“

Jürgen Gottschlich