Schritt für Schritt in die EU

Die Beitrittsverhandlungen sind von ständigen Kontrollen begleitet. EU-Bürger sehen die Aufnahme neuer Länder kritischer

aus Brüssel Daniela Weingärtner

Wieder einmal hat Europa einen historischen Augenblick vergeigt. Der türkische Außenminister Abdullah Gül musste den ganzen Montagabend in Ankara vor einem Telefon sitzen, das nicht klingeln wollte. Wie die türkische Zeitung Sabah gestern berichtete, habe dann gegen halb acht sein Duzfreund Joschka angerufen. „Abdullah, wir warten. Spring ins Flugzeug und komm“, soll Fischer gesagt haben. Der türkische Außenminister war zu diesem Zeitpunkt, nach mehr als 24 Stunden Hängepartie, nicht gerade überschäumender Laune. Man kann es ihm nicht verdenken. „Ich warte hier, bis du nach Luxemburg kommst“, soll Fischer ihn aufgemuntert haben. So könnte es gewesen sein. In den Geschichtsbüchern wird es ziemlich kurios aussehen.

Als Gül einige Stunden später im Konferenzzentrum eintraf, blickte er dann doch ziemlich vergnügt in die Kameras. „Sie werden Ihre Kopfhörer benötigen“, sagte er zu Beginn seiner Erklärung. „Türkisch wird demnächst eine europäische Amtssprache sein.“ Sein Land werde die mit dem Beitrittsprozess verknüpften Erwartungen erfüllen. Er hoffe, das Bild der Türkei in der europäischen Öffentlichkeit werde sich wandeln. „Wir sind entschlossen, dazu beizutragen.“

Derzeit steigt laut einer Umfrage des German Marshall Fund in der Union die Ablehnung gegen eine Aufnahme der Türkei weiter an. Nur noch 22 Prozent der Befragten in neun untersuchten EU-Ländern sprechen sich für einen türkischen Beitritt aus. In Frankreich fiel die Zustimmung auf elf Prozent, in Österreich auf zehn Prozent. Zu Jahresbeginn waren im Durchschnitt noch 35 Prozent der Befragten dafür.

Auch das Image der EU wird schlechter. Während die Union für Nachbarländer wie die Ukraine, Montenegro oder Serbien immer attraktiver wird, wenden sich die Bürger der alten Mitgliedsstaaten von Brüssel ab. Auch deshalb verlangt die Union künftig mehr Vorleistungen von ihren Kandidaten. Im Fall einer ernsten und andauernden Verletzung der europäischen Grundwerte werden die Gespräche ausgesetzt. Die Funktionstüchtigkeit der Marktwirtschaft und die Fortschritte im rechtlichen Besitzstand werden ständig von der EU-Kommission kontrolliert und ebenso an zuvor festgelegten Grenzwerten, so genannten Benchmarks, gemessen wie die Umsetzung der Zollunion. Einige Mitgliedsrechte wie Personenfreizügigkeit sollen dauerhaft ausgesetzt werden können. Zum ersten Mal wird der Beitritt nicht als selbstverständliches Ziel vorausgesetzt. Die Verhandlungen werden als ergebnisoffen beschrieben.

Die praktische Arbeit beginnt nun in Brüssel mit dem so genannten Screening. Dabei handelt es sich um eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation in der Türkei, geordnet nach 35 Verhandlungskapiteln. Bei den Sachgebieten, wo die Bestandsaufnahme abgeschlossen ist, werden mögliche Defizite gegenüber dem in der EU erreichten Niveau benannt, zum Beispiel im Umweltschutz oder bei der Rechtsstaatlichkeit. Dann legen die Brüsseler Fachleute gemeinsam mit ihren Kollegen aus der Türkei einen Fahrplan fest, wie und in welchem Zeitraum die Verhältnisse an EU-Standards angeglichen werden müssen. In bisherigen Beitrittsrunden war es üblich, mit den einfachsten Kapiteln zu beginnen. Doch Ankara wird in der ersten Themengruppe nicht nur Wissenschaft und Forschung, Statistik, Bildung und Kultur abhandeln, sondern auch das komplizierte Kapitel Landwirtschaft anpacken müssen.

Die Unionsbürger haben die letzte Erweiterungsrunde noch nicht verkraftet, doch weitere Neuankömmlinge stehen schon vor der Tür. Im Jahr 2007 wird Bulgarien aufgenommen, voraussichtlich ein Jahr später Rumänien. Da die Verfassungsreform für unbestimmte Zeit verschoben ist, bleibt es bei den halbjährlich wechselnden Präsidentschaften. Ein Blick auf den „Dienstplan“ bis zum Jahr 2020 vermittelt einen Eindruck davon, wie rasch sich Europa verändert.

Im zweiten Halbjahr 2012 soll Zypern den Ratsvorsitz übernehmen. Vielleicht sind dann die Verhandlungen mit Ankara gerade in einer kritischen Phase. Erst gestern hat die türkische Regierung noch einmal bekräftigt, sie werde Zypern weiterhin nicht anerkennen. Daran ändere sich nichts, bis es einen Friedensplan gebe, der den türkischen und den griechischen Teil der Insel umfasse, sagte Außenminister Gül in Luxemburg.

So könnte es die Türkei 2012 mit einer Ratspräsidentschaft zu tun haben, deren Legitimität sie gar nicht anerkennt. Kommen die Verhandlungen tatsächlich in zehn Jahren zum Abschluss, dann wird Lettland den Vorsitz führen – zum ersten Mal in seiner Geschichte, eine wahre Feuertaufe. Rumänien, das derzeit größte Probleme hat, den Beitrittsfahrplan einzuhalten, muss sich ranhalten. 2019 ist das Land mit der Präsidentschaft dran.