Einsteigen beim Klassenfeind

Gut, BVG-Busfahrer motzen immer noch gerne. Aber vor 25 Jahren konnte man im Westberliner Nahverkehr echte Abenteuer erleben. „Eine anstrengende Zeit“, sagt Fahrgastlobbyist Gerhard Curth

INTERVIEW ULRICH SCHULTE

taz: Herr Curth, Sie haben 1980 den Fahrgastverband gegründet. Wie kommt ein Bayer in Westberlin auf so eine Idee?

Gerhard Curth: Ich war an Münchner Verhältnisse gewöhnt. Dort hatte die Stadt zur Olympiade 1972 eine nagelneue S-Bahn gebaut. Als ich nach Berlin ins Bezirksamt Steglitz versetzt wurde, dachte ich: Meine Güte, so ein Schmuckstück wie die Berliner S-Bahn darf man nicht so verrotten lassen.

Die – von der Reichsbahn der DDR betriebene – S-Bahn war bei den meisten WestberlinerInnen verpönt.

Richtig. Mein Schlüsselerlebnis war eine Sitzung im Bezirksamt. Ich, der S-Bahn-Nutzer, kam zu spät. Mein Chef teilte mir deutlich mit, was von dem Verkehrsmittel zu halten sei. Eine Kollegin, die mit dem Auto im Stau stecken geblieben war, stieß auf vollstes Verständnis. Die Westberliner boykottierten die S-Bahn seit dem Mauerbau. Schließlich hatte die DDR dafür 1.200 Kilometer Stacheldraht geordert – bei einer Westfirma.

Wer sich für S-Bahn und Bahn stark machte, kooperierte also mit dem Klassenfeind?

Einige sahen das so. Auch der Fernverkehr aus Berlin in den Westen war katastrophal. Die Züge waren überfüllt, stanken, der Speisewagen fehlte. Ein paar Freunde und ich wollten dies alles nicht mehr hinnehmen. Bei der Vereinsgründung waren die Auswärtigen in der Mehrzahl; nur die waren für so ein Vorhaben verrückt genug.

Eine erste Bewährungsprobe war der Streik der Reichsbahner 1980 in Westberlin. Wie sah Ihre Arbeit aus?

Was sich da abspielte, war unglaublich. Der Streik hat uns enormen Zulauf verschafft. An einem Tag standen zwei brechend volle Züge in Richtung Bundesrepublik im Bahnhof Zoo und konnten nicht weiter. Die Weichensteller streikten ja. Die Ansager streikten aber auch, deshalb wusste niemand Bescheid. Plötzlich ruckte der Zug an, eine Lok hat ihn erst mal zum Bahnhof Friedrichstraße zurückgeschoben. Dort bequemte sich nach unserer Intervention ein Grenzer, die Leute per Lautsprecher dazu aufzufordern, mit der S-Bahn zurück zum Zoo zu fahren. Hier warteten Busse.

die auf der Transitroute in Richtung Hannover fuhren.

Genau. Im Bus wollte die Bundesbahn die Fahrgäste noch mal abkassieren. Das Reichsbahn-Ticket interessierte die gar nicht. Es war eine anstrengende Zeit für Fahrgastlobbyisten.

Zurück zur S-Bahn. Warum hat der Senat nicht schon früher versucht, den Betrieb in Westberlin an sich zu ziehen?

„Das ist Sache der Alliierten“, war das Standardargument. Erst 1981, als Hans-Jochen Vogel kurz Regierender war, kam der Durchbruch. Er als Auswärtiger traute sich an das Thema ran und bildete eine Kommission.

Sie hatten vorher schon mit den Sowjets gesprochen. Wie lief das – die Wodkaflasche unter den Arm geklemmt und los?

Nee, aber ich bin mit Wodkaflasche zurückgekommen. Ein befreundeter Verband hat mir eine Einladung zum 60. Jahrestag der Oktoberrevolution zugeschustert. Dort habe ich den Generalkonsul für die Westsektoren angesprochen, er hat mir den Termin beim Verkehrsattaché besorgt. Kein Problem, meinte der – die Hoheitsrechte für die Gleise blieben ja eh bei den Alliierten.

Und die anderen Alliierten zogen auch mit?

Ein Kollege hat sich um einen zustimmenden Brief aus Frankreich bemüht, Mitterrand hat geantwortet. Die Amerikaner haben sich überhaupt nicht gemeldet, den Briten war alles egal. Tja, damit hatte der Senat kein Argument mehr. In den Jahren danach haben sowohl die Stasi als auch der Verfassungsschutz unseren Verein observiert.

Berührungsängste hatten Sie jedenfalls nicht.

Das stimmt. Wir haben auch die Sozialistische Einheitspartei Westberlin, die SEW, zu einer Diskussion eingeladen. Die waren unsere Briefträger nach drüben. Die CDU hat das nicht verstanden, nahm aber trotzdem teil.

Die BVG hielt nichts von einer S-Bahn unter Senatsregie. Der damalige Chef soll gesagt haben: „Der Senat sollte eher jedem S-Bahn-Kunden einen VW schenken, als den Schrott zu renovieren.“

Die BVG hat der S-Bahn jede Daseinsberechtigung abgesprochen. Der Vorstand hatte Angst ums Geschäft – denken Sie an Parallelstrecken wie die U7 –, die Beschäftigten hatten Angst um ihren Job. Busfahrer sind an Umsteigebahnhöfen absichtlich losgefahren, wenn die S-Bahn kam – damit die Leute warten mussten. Aber die BVG hat die S-Bahn nach der Entscheidung ab 1984 professionell gemanagt.