Kalter Krieg im Nahverkehr

Vor 25 Jahren streikten die Reichsbahner gegen Streckenstilllegungen in Westberlin. Im gleichen Jahr wurde der Fahrgastverband Igeb gegründet. Er hatte Erfolg. Ab 1984 fuhr die S-Bahn unter Regie der Westberliner BVG

Westberliner auf dem Gehaltszettel der Deutschen Reichsbahn, Ostberliner Reichsbahner im Einsatz in Westberlin, Boykott und Streik – das war die S-Bahn vor 25 Jahren, als der Fahrgastverband Igeb gegründet wurde. Kalter Krieg im Nahverkehr.

Wie alles im Kalten Krieg hatte auch das mit dem Mauerbau zu tun. Mit der Teilung der Stadt wurde das Verkehrsnetz auseinander gerissen. Aufgrund einer Vereinbarung der Alliierten blieb die S-Bahn in Westberlin allerdings in Regie der Ostberliner Reichsbahn. So kam es, dass Westberliner – viele von ihnen Mitglieder der „Sozialistischen Einheitspartei Westberlins“ (SEW) – für den Osten arbeiteten und Ostberliner ihren Dienst im kapitalistischen Westen verrichteten.

Der kapitalistische Westen hatte den sozialistischen Betrieb auf seinem Territorium nur bedingt lieb. Kaum war die Mauer hochgezogen, rief der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zum Boykott der S-Bahn auf. Die Westberliner folgten, nicht zuletzt deshalb, weil der Westberliner Senat parallel zur S-Bahn U-Bahn-Strecken baute. Von ehedem 500.000 Fahrgästen 1960 blieben Ende der 70er-Jahre nur noch 70.000 übrig.

Angesichts eines hohen Defizits von jährlich bis zu 140 Millionen DM beschloss die Reichsbahn 1980 Massenentlassungen. Die Reichsbahner reagierten darauf mit einem spektakulären Streik – allerdings ohne Erfolg. Vier der sieben Linien wurden eingestellt, das Streckennetz von 145 auf 76 Kilometer verkürzt.

Dass der neu gegründete Fahrgastverband mit seinen Forderungen nach einer Übernahme der S-Bahn Gehör finden konnte, lag auch an den Alliierten. Die gaben 1983 grünes Licht für Verhandlungen zwischen Senat und Reichsbahn, ein Jahr später erfolgte die Übergabe. Die Westberliner durften nun wieder politisch korrekt S-Bahn fahren, auch wenn das Vermögen der Reichsbahn unangetastet blieb. Allzu große Sprünge konnte die BVG mit den ockergelben Zügen allerdings nicht machen. Zunächst wurden nur die beiden Strecken Anhalter Bahnhof–Lichtenrade und Charlottenburg–Friedrichstraße in Betrieb genommen. Ein halbes Jahr später folgten die Verlängerung der Stadtbahn bis Wannsee, die Strecke Anhalter Bahnhof–Frohnau. 1985 ging die lang ersehnte Wannseebahn auf Fahrt.

1994 verlor die BVG die S-Bahn wieder. Diesmal allerdings nicht an einen sozialistischen, sondern an einen staatssozialistischen Betrieb – die Deutsche Bahn AG. UWE RADA