Stilles Innehalten, schweres Aushalten

Theater Unheilszeichen mehren sich: „Der Schimmelreiter“ am Thalia Theater Hamburg

Die Gemeinschaft ist geprägt vom Aneinandervorbei­sehen und -reden

Am Ende gleißendes Metall, Jimmy Hendrix’ „Voodoo Chile“ und ein nackter Männerkörper. Der von Jens Harzer, er spielt Hauke Haien. Jenen nahezu selbstberufenen Deichgrafen, jenen Mann mit einer Vision zum Schutz vor der Gewalt des Meeres. Und doch wird er die Nordseesturmflut von 1756 nicht abwehren können. „Das Jahr, von dem ich erzähle, war das Jahr 1756.“ Dieser Satz bildet den Ausgangspunkt des Abends – es ist Theodor Storms Geschichte des „Schimmelreiters“.

Der niederländische Regisseur Johan Simons hat die Novelle aus dem Jahre 1888 am Hamburger Thalia Theater auf die Bühne gebracht. Mit der Fassung von Susanne Meister hat er eher ein episches Gedicht geschaffen als eine rasante Erzählung. Dass am Schluss Jimmy Hendrix in den Ohren dröhnt und Jens Harzer mit der nackten Verzweiflung eines aus dem Nest gefallenen Vogels vor einer gigantischen Wand bebt, generiert sich allerdings rein gar nicht aus dem bis dahin Gesehenen. Vielmehr hat dieser Schluss den Beigeschmack spektakeltheatraler „must ­haves“: ein Nackter, ein modernes Musikstück und ein massives Bühnenbild. Dennoch stimmt dieses eindrucksvolle Bild versöhnlich. Endlich Wucht. Endlich ausgestellte Verzweiflung. Endlich fluchtartige Empörung im Parkett.

Bis dahin, lange drei Stunden lang, ist die Inszenierung mehr Lesung als Theater. Das Bühnenbild von Bettina Pommer zeigt eine kühle, wehrhafte ­Konstruktion, auf der ein schimmelweißer ­Pferdekadaver drapiert ist. Unruhige Wolkenprojektionen ziehen auf diesem Deich vorüber, auf dessen Kuppe sich die Schauspieler immer wieder wie Unglücksboten versammeln. Feierlich schwarz sind sie gekleidet, bodenlos dunkel der Hintergrund, ein paar nordfriesische Trachten klingen ebenfalls mit an (Kostüme: Teresa Vergho). Dazu meist schales (Mond-)Licht.

„Das Jahr, von dem ich erzähle, war das Jahr 1756, das in unserer Gegend nie vergessen wird. Nicht bloß Fliegen und Geschmeiß, auch Blut ist wie Regen vom Himmel gefallen …“, setzt Jens Harzer ruhig an und schildert die Ereignisse bis zur vernichtenden Sturmflut. Langsam, fast furchtsam wendet er sich dann seiner Elke zu (mädchenhaft: Birte Schnöink). Währenddessen macht sich die alte Trien Jans (Barbara Nüsse) halluzinierend ans Sterben, was das Kind (Kristof Van Boven) mit verstörender Neugier erfüllt. Dorfbewohner Carsten (Rafael Stachowiak) berichtet von weiteren Unheilszeichen und Ole Peters (Sebastian Rudolph), der Großknecht und Widersacher Haiens, mimt den schmallippigen Zyniker.

Rhythmus der Gezeiten

Sieben Mal lässt Simons diese Szene wiederholen, sieben Mal läutet die mittig positionierte Glocke – zum Begräbnis, zur Hochzeit, zur Sturmflut –, sieben Mal wird vom „Schimmelreiter“ erzählt. Von jenem zielstrebigen, jungen Mann, der sich vom Kleinknecht zum Deichgrafen aufschwingt, der mit seinen Ideen die Dorfgesellschaft gegen sich aufbringt, letztlich scheitert und sich – neben ertrinkender Frau und Kind – in den Deichbruch stürzt. Sieben Mal fächert der Regisseur Hauke Haiens Geschichte immer ein Stück weiter und detailreicher auf. Dieses Repetitionsmantra ist zunächst faszinierende, bald zwingende Wiederkehr, man denkt an die Gezeiten, doch bald entwickelt es sich zur theatralen Blockade.

Die Darsteller agieren untertourig, ihre Bewegungen sind tastend, suchend. Ihr Gemeinschaft ist geprägt von distanziertem Aneinandervorbeisehen und -reden. Diese formale Setzung hat als Zeichnung einer misstrauischen Dorfgesellschaft ihre spröde Berechtigung. Regelmäßig baut Simons Pausen ein: stilles Innehalten, schweres Aushalten. Und doch übertragt sich herzlich wenig von der Stimmung der Storm’schen Figuren, von der bedrückenden Atmosphäre, die plump durch Glockengeläut, tiefes Pferdeschnauben und pfeifende Windböen illustriert wird.

Zu statisch, zu stilisiert ist der ganze Abend. Bis, ja, eben bis sich in den letzten Minuten, in jener verheerenden Sturmflutnacht, das Bühnenbild aufzubäumen scheint, sich zu einer drohenden, fast portalfüllenden Wand erhebt und ein unbenommen grandioser Jens Harzer – schwer atmend, wild erregt, fahrigen Auges – sich dieser Wucht wie einer Flutwelle ergibt. Schutz- und kleiderlos. Nur mehr gebettet in ohrenbetäubende Gitarrenklänge von, warum auch immer, Jimmy ­Hendrix. Katrin Ullmann