Es ist Zeit für
neue Märchen

ALTERNATIVE Gute-Nacht-Geschichten sind mehr als Lügen und Schönfärberei. Ein Plädoyer für Utopien von links

Die Teilnehmer*innen des 22. Panter-Workshops Foto: Anja Weber

In der Huffington Post wurde zuletzt „Das Märchen von der Leistungsgesellschaft“ vorgestellt, in dem Arbeit letztlich doch nicht mit Wohlstand belohnt wird. Die Zeit schrieb vom „Märchen der guten Avocado“, die nicht nur cholesterinsenkend ist, sondern vor allem eine weitgereiste Klimasünderin. Und während Finanzminister Wolfgang Schäuble 2015 das Märchen der Schwarzen Null schreibt, ist die Kluft zwischen Besserverdienenden und Niedriglohnjobbern seit 1990 enorm angestiegen.

Wenn wir heute von Märchen sprechen, sind damit häufig Lügen gemeint. Märchen bergen die Gefahr der Verblendung und Schönfärberei. Dabei liegt die Kraft von Märchen in einem fundamentalen Optimismus. Die zuversichtliche Gewissheit, „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, gibt Menschen Halt. Der Dichter Wolfgang Erbroth fasste es einmal so zusammen: „Ein Märchen macht das Wesen leicht, weil manche Angst beim Lesen weicht.“ Märchen sind nicht nur süße Einschlafgeschichten für Kinder, sondern thematisieren unterschiedliche Sehnsüchte wie Gerechtigkeit und Glück.

Das Alter, in dem das Märchenbuch der Brüder Grimm an Faszination verliert, mag irgendwann erreicht sein. Doch auch danach gibt es Erzählungen, die uns gut einschlafen lassen. Sie betten den Ist-Zustand ein, in eine Geschichte, die gut enden wird. Sie entwerfen Bilder, von denen wir auch in unseren Träumen noch zehren, die uns das Gefühl von Sinn geben. So schuf sich die Volkswirtschaftslehre das Märchen der unsichtbaren Hand und des ewigen Wachstums. Das beruhigt einige und hilft ihnen über den besorgniserregenden Zustand endender Ressourcen und globaler Ungerechtigkeit hinweg. Für viele ist dieses Märchen jedoch zur Lüge geworden und spendet weder Kraft noch Trost. Die Postwachstumsbewegung nimmt Abschied vom Fabeltier des ewigen Wachstums. Um einschlafen zu können, erzählt sie von Möglichkeiten der Nachhaltigkeit, von einem Leben, das nicht auf Ausbeutung beruht. Es ist das Märchen der Wachstumskritiker*innen.

Auch die Rechtspopulist*innen dieser Welt, wie Donald Trump, Marine Le Pen und Frauke Petry, entwerfen Märchen. Sie bedienen sich der Ängste und beschwören Katastrophen wie die Islamisierung des Abendlandes herauf. Ihr „Happy End“ bietet Zuflucht in die abscheuliche Fantasie weißer Überlegenheit und Gewalt.

Welchen Märchen sollten wir erlauben, gesamtgesellschaftliche Wirkung zu entfalten, und welchen nicht? Welche Märchen bedienen Ressentiments und Ängste und welche dienen als Vision und Kraftquelle, um aufzubrechen in eine Gesellschaft, die emanzipiert, solidarisch, nachhaltig und frei ist?

Es ist an der Zeit, neue Märchen zu schreiben: kraftvolle Utopien, die mehr sind als nur Lügen und Schönfärberei. Märchen, die Flucht aus der Realitätswelt ermöglichen. Ein bisschen Weltflucht kann heilsam sein. Märchen, die aber gleichzeitig Optimismus vermitteln, die uns motivieren und ansteckend sind. Trauen wir uns, unsere Utopien zu teilen und verständlich zu machen, ohne ideologisch zu sein und den kritischen Blick zu verlieren. Es reicht nicht, Lügenmärchen zu enttarnen, es bedarf alternativer Utopien von links. Paula Haufe
und Marieke Prilop